Wie aus Zufall Chaos wird

Vor 25 Jahren starb der sowjetische Mathematiker Andrej N. Kolmogorow

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

»Es ist unbestreitbar«, schreibt der bekannte niederländische Mathematikhistoriker Dirk J. Struik, »dass Moskau in den 1930er Jahren zu einem der größten mathematischen Zentren der Welt wurde.« Einer, der an dieser Entwicklung maßgeblichen Anteil hatte, war Andrej Nikolajewitsch Kolmogorow, als dessen größte Leistung die Axiomatisierung der Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt.

Geboren wurde Kolmogorow am 25. April 1903 im russischen Tambow. Nach der Schule arbeitete er eine Zeit lang als Eisenbahnschaffner und verfasste nebenher eine Abhandlung über die Newtonsche Mechanik. 1920 begann er in Moskau Metallurgie und russische Geschichte zu studieren, bevor er sich ganz der Mathematik widmete und dabei schon als Student einige wichtige Arbeiten vorlegte. Als frisch gebackener Doktor brach Kolmogorow 1930 zu einer Studienreise auf, die ihn nach Berlin, Göttingen, München und Paris führte. Nach seiner Rückkehr wurde er 1931 an der Universität Moskau zum Professor ernannt.

Zwei Jahre später veröffentlichte er in Deutschland das Buch »Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung«, das manche Historiker mit Euklids »Elementen« vergleichen, in denen sich bekanntlich eine deduktiv-axiomatische Grundlegung der Geometrie findet. Wie Kolmogorow zeigen konnte, genügen drei Regeln (Axiome) für das Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten, um darauf das gesamte Gebäude der Wahrscheinlichkeitstheorie zu errichten.

Diese Axiome lauten: 1. Für jedes Ereignis ist die Wahrscheinlichkeit eine reelle Zahl, die zwischen null und eins liegt. 2. Die Wahrscheinlichkeit des sicheren Ereignisses beträgt eins. 3. Die Wahrscheinlichkeit der Vereinigung zweier einander ausschließender Ereignisse ist gleich der Summe der Einzelwahrscheinlichkeiten.

Der Vorteil dieser von Kolmogorow eingeführten Axiome besteht darin, dass sie losgelöst sind von der Durchführung realer Zufallsexperimente. Allerdings lassen sich die konkreten Wahrscheinlichkeiten bei solchen Experimenten nur aus dem jeweiligen Kontext des realen Geschehens ableiten.

Kolmogorow war nicht nur ein begnadeter Mathematiker. 1941 veröffentlichte er zwei Arbeiten über die Turbulenz von Flüssigkeiten und wies damit den Weg zur Chaostheorie. 1954 folgte eine Untersuchung über dynamische Systeme, die als beispielhaft gilt für die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Physik. Ausgangspunkt war die Jahrhunderte alte Frage, ob unser Sonnensystem stabil ist. Schon Isaac Newton hatte erkannt, dass aus dem Wechselspiel von Gravitations- und Trägheitskräften zweier Planeten eine Ellipsenbahn resultiert. Auf einer solchen bewegt sich zum Beispiel die Erde um die Sonne. Allerdings wird sie dabei auch von anderen Planeten beeinflusst. Obwohl deren Wirkungen minimal sind, blieb offen, ob und wie weit dadurch die irdische Ellipsenbahn gestört wird. Kolmogorow konnte nachweisen, dass viele, wenngleich nicht alle möglichen Planetenbahnen im Sonnensystem quasi-periodisch und somit stabil sind. Andere Bahnen hingegen führen langfristig ins Chaos. Diese Theorie wurde von dem sowjetischen Mathematiker Wladimir Arnold und dessen deutschem Kollegen Jürgen Moser weiterentwickelt, weswegen man heute von der »KAM-Theorie« spricht.

In seinen späten Jahren setzte sich der international hochgeehrte Kolmogorow neben seiner Forschungstätigkeit vor allem für die Förderung mathematisch begabter Kinder ein. Er starb am 20. Oktober 1987 in Moskau.

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