nd-aktuell.de / 20.10.2012 / Kultur / Seite 20

Atheist oder normal?

ZUR SEELE: Erkundungen mit Schmidbauer

Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.
Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.

In Goethes West-Östlichem Diwan wird der Eingang zum Paradies von einer schönen Jungfrau bewacht. Der Dichter begehrt Einlass. Sie stellt ihn auf die Probe: Ist er wirklich ein Kämpfer für den Glauben?

Ob du unsern Mosleminen
Auch recht eigentlich verwandt?
Ob dein Kämpfen, dein Verdienen
Dich ans Paradies gesandt?
Der Dichter darauf:
Nicht so vieles Federlesen!
Lass mich immer nur herein:
Denn ich bin ein Mensch gewesen
Und das heißt ein Kämpfer sein.

Goethe hat nicht nur über Weltliteratur, sondern auch über Weltreligion nachgedacht. Dieses Gedicht ist ein Hinweis darauf, nicht anders als der Satz in den Zahmen Xenien: »Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion; wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion!« Sigmund Freud hat ihn sehr beifällig in seiner Studie über das Unbehagen in der Kultur zitiert. Beide Denker waren sich einig, dass die Überzeugung einer Korrektur bedarf, der rechte Glaube allein garantiere einen würdigen Umgang der Menschen untereinander. Es ist mindestens so wichtig, altes Wissen nicht zu vergessen, wie der Welt neue Einsichten abzuringen. Das gilt gerade für den langen Weg der Zivilgesellschaft zur Toleranz für unterschiedliche Traditionen und Symbole.

Im Sommer 2012 wurde der Berliner Rabbiner David Alter in Berlin-Friedenau von arabischen Jugendlichen zusammengeschlagen. Er trug die Kippa. »Bist du Jude?« hatten sie ihn gefragt, ehe sie zuschlugen. In der Folge empfahl die jüdische Gemeinde, die Kippa in der Öffentlichkeit nicht mehr zu tragen, und es entspann sich die charakteristische Debatte, was denn Zivilcourage und Religionsfrieden mehr fördern könne - das öffentliche Signal oder der Rückzug in die Nischenwelt. In diesem Zusammenhang habe ich den Aufruf gelesen, dass solche Abschottung bekämpft werden müsse - »am besten von Juden, Christen, Muslimen und Atheisten gemeinsam.« So Jörg Lau in der »Zeit«.

Irritiert hat mich der Atheist unter den Gläubigen, der sich anscheinend mit darum kümmern soll, dass sich diese anständig aufführen. Warum er? Wie kommt er dazu? Er hätte doch bereits das Patentrezept: Wenn alle Menschen die Gottesillusion durchschauen, gibt es keinen Religionskrieg und keine Fanatiker mehr.

Ich selbst gehöre nicht zu den Gläubigen, aber bin ich deshalb ein Atheist? So verstehe ich mich durchaus nicht, nur ist mir der katholische Glaube, in dem ich erzogen wurde, in der Auseinandersetzung mit seiner engherzigen Sexualmoral abhanden gekommen. Ich habe ihn verloren und eigentlich nie vermisst. Ich fand meinen Zustand nach diesem Verlust entspannter als den Zustand vorher, verspüre aber keinen Wunsch, mich jetzt zum Atheismus so zu bekennen wie seinerzeit zum Glauben an den dreifaltigen Gott.

Eine Kollegin, die in Sachsen aufgewachsen war, reagierte verwirrt, als sie in Bayern bei einer Bewerbung von dem (kirchlichen) Träger aufgefordert wurde, wieder in die Kirche einzutreten, wenn sie an dem Arbeitsplatz interessiert sei. In diesem Zusammenhang erzählte sie, dass es in der DDR - außer bei kirchlichen Trägern - normal war, kein Bekenntnis ablegen zu müssen. Normal - das gefiel mir. Kritiker der sozialistischen Einheitspartei werden sagen, ich hätte keine Ahnung, wie sich eine Diktatur anfühlt. Sie haben recht. Aber darf ich es nicht normal finden, ein Mensch zu sein, der sich von der Kirche seiner Kindheit verabschiedet hat? Der daraus keine neue Kirche macht und in den letzten Jahrzehnten die Frage nach Gott einfach weit offen gelassen hat?

Ich habe Freunde unter Gläubigen und Ungläubigen. Ich interessiere mich für Geschichte, Kunst und Psychologie; ein solches Interesse kann gar nicht anders, als sich auch mit religiösen Fragen zu beschäftigen. In dieser durchaus intensiven Beschäftigung habe ich nie das Bedürfnis verspürt, michoder andere zu bekehren. Gegen das Missionarische in mir und in anderen bin ich misstrauisch geworden und geblieben. Das ist nun aber eben eine sehr persönliche Sache und keine, für die ich auf die Straße gehen möchte.