nd-aktuell.de / 03.11.2012 / Kultur / Seite 24

»Die Mauern stehn sprachlos und kalt ...«

»Friedrich Hölderlin« von Pierre Bertaux - keine Fiktion und doch ein faszinierender Lebens-Roman

Sabine Neubert

Es gibt Bücher, in die (nicht: auf die?) fällt man immer wieder rein. Zu diesen Büchern gehört für mich Pierre Bertaux' »Friedrich Hölderlin«. Ja, das Lesen ist tatsächlich ein Hineinfallen, wobei sich mir zugleich die Frage stellt, ob es wirklich ein Mangel wäre, auf ein gutes Buch »hereinzufallen«. Schließlich haben sich ja in der Literatur die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion verwischt. Und welcher Biograf kann für sich beanspruchen, im Besitz der vollen Wahrheit über seinen »Helden« zu sein?

Pierre Bertaux' »Hölderlin« ist keine Fiktion, aber er gleicht über weite Strecken einem faszinierenden Lebens-Roman. Entstanden ist das Buch nach jahrzehntelanger historischer und literarischer Forschungsarbeit. Bertaux hat dabei so überzeugend mit dem Bild des wahnsinnigen, umnachteten oder gar schizophrenen Hölderlin in der zweiten Hälfte des Lebens aufgeräumt, dass keine ernsthafte Darstellungen mehr hinter diese Arbeit zurück kann.

Es ist hier nicht der Ort, der von Urteilen, Vorurteilen und Vereinnahmungen geprägten, fast zwei Jahrhunderte währenden Hölderlin-Rezeption (von Bettina von Arnim über Stefan George oder Stefan Zweig - bis Elfriede Jelinek) nachzugehen. Das lässt sich teilweise sehr gut im Vorwort zur zweibändigen Werkausgabe aus dem Aufbau Verlag (1989) nachlesen. Warum die Herausgeber damals gerade den auch in der DDR zwei Jahre zuvor erschienenen »Friedrich Hölderlin« von Bertaux unterschlugen, ist heute nicht mehr einsichtig.

Erstmals las ich diesen Lebens-, Liebes- und Leidens-»Roman« im Jahre 1979 - damals unter Tränen, zum zweiten Mal im Jahre 1987 mit der Frage nach Lebenssinn und Lebensgestaltung. Nun wird das Buch zur neuerlichen Entdeckung der Dichtung Hölderlins selbst, und so soll es auch zum Lesen oder Wiederlesen empfohlen sein. »Als vollendete Sprachgebilde, deutsche Sprachwunder, erscheinen mir manche Gedichte Hölderlins, so zauberhaft gebaut, als hätte sie kein Mensch, sondern die Sprache selber erschaffen ...«, hat Johannes R. Becher geschrieben. Wenigstens eins dieser wunderbaren Gedichte sei hier zitiert, gerade weil es in besonderer Weise so erschreckend eng mit dem Leben des Dichters verwoben ist:

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget

Und voll mit wilden Rosen

Das Land in den See...

Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein,

Und Schatten der Erde?...

Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen.

Friedrich Hölderlin war kein »normaler« Mensch, auch Pierre Bertaux sieht in ihm den »aus der Norm Herausgefallenen«, den »Andersgearteten«. Aber er bietet plausible Erklärungen, warum der Dichter nach den beiden einschneidenden traumatischen Ereignissen (und ihnen folgenden Zusammenbrüchen), dem Tod von Susette Gontard (seiner Diotima) im Jahre 1802 und der zwangsweisen Einlieferung am 11. September 1806 in die Autenriethsche Klinik, »aus der Welt« ging und sich fortan so gut wie jeder Kommunikation mit den Menschen entzog. Mehr als sechsunddreißig Jahre, also fast genau die Hälfte seines Lebens, hat er bekanntlich in Pflege der Schreinermeisterfamilie Zimmer im Tübinger »Turm« gelebt.

Bertaux verdeutlicht, dass zum Rückzug maßgeblich, vielleicht überhaupt entscheidend, der Hochverratsprozess seines Freundes Sinclair, die verlorene Hoffnung auf eine »Schwäbische Republik« und das Scheitern aller Berufspläne (des »Empedokles« als Revolutionsdrama, der literarischen Zeitschrift und einer durch Schiller vermittelten Dozentur in Jena) beitrugen.

»Mir wurde es immer unmöglicher, die Dichtung Hölderlins von der Person Friedrich Hölderlin zu trennen«, schreibt Bertaux. Dreifach geht er dem Lebensweg des Dichters nach.

Im ersten Teil sind alle Dokumente zur Krankengeschichte gesammelt und »auf ihren wirklichen Aussagewert hin« vom Autor geprüft worden. Jedem der 29 Dokumente ist ein Kommentar hinzugefügt.

Im zweiten Teil unternimmt Bertaux die psychologische (»nicht pathologische«!) Deutung des Falles Hölderlin. Der dritte Teil, »der keine Biografie zu sein beansprucht«, aber doch einer äußerst tragischen Biografie sehr nahe kommt, schildert die entscheidenden Ereignisse, die Schicksalsschläge und - herausgehoben - das Verhältnis zu den wichtigsten weiblichen Bezugspersonen, zu Susette Gontard und zur Mutter.

Der Schluss bündelt Begriffe, die dem Leben und der Dichtung Hölderlins eingeschrieben sind: Schuld, Sühne, Tod, Wahnsinn. Hier eröffnet sich dem Leser noch eine weitere Dimension, die er bisher leicht überlas.

Hölderlin sei, so Bertaux, in der zweiten Lebenshälfte sehr viel in der umgebenden Natur gelaufen. War er damit dem »einsamen Spaziergänger« Rousseau und seinen »Träumereien« nicht eigentlich vergleichbar und wesentlich näher als dem wahnsinnigen Friedrich Nietzsche?