Alle Macht den Linien!

Raffael als Zeichner im Frankfurter Städel

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 4 Min.

Alle Macht den Linien! Sie lassen Muskeln schwellen und Gewänder flattern, sie hauchen Körpern Seele ein und graben Schmerz in Gesichter. Lange bevor der Pinsel einem Bild seine farbige Außenhaut überstülpt, halten Umrisse, Binnenstriche und Schraffuren das Werk so fest, wie es kurz nach dem kreativgeistigen Blitzeinschlag im Künstlerkopf ausgesehen hat. Deshalb gelten die brauntonigen Altmeisterzeichnungen in Tusche, Rötel oder Silberstift als unmittelbarster Ausdruck des Malerwillens, von keinem Zugeständnis an den Auftraggeber verfälscht.

Für Giorgio Vasari, den Ahnherren der Kunstgeschichte, wurzelte nicht nur die Malerei im linearen Skizzieren. Alle Künste, auch Architektur und Plastik, führte der Florentiner auf die Zeichnung zurück, auf den Disegno, in dem der neoplatonisch Geschulte einen Abglanz der göttlichen Idee erblickte. Und zum obersten Virtuosen des Disegnos erklärte Vasari seinen Landsmann Raffael.

Derzeit tobt eine Experten-Schlammschlacht um die Frage, ob und wie umfangreich der Renaissancestar bei einem 2010 erworbenen Porträt von Papst Julius II. in der Gemäldesammlung des Frankfurter Städels Hand anlegte. Niemand aber bezweifelt die Echtheit jener elf Zeichnungen, die seit dem 19. Jahrhundert der Grafischen Sammlung des hessischen Traditionsmuseums gehören.

Aus diesem Fundus heraus hat man am Main nun eine Ausstellung konzipiert, die das Genie aus Urbino erstmals in der Bundesrepublik ausschließlich als Zeichner befragt. Die mit rund vierzig Leihgaben vor allem aus britischen Sammlungen bestückte Schau wirkt zunächst etwas spezialistenhaft verschlossen, da sie eine gewisse Vorkenntnis der Raffael'schen Gemälde und Fresken fordert.

Wer sich aber konzentriert auf die lichtscheuen Schönheiten einlässt, wird reich belohnt. Bei Betrachtung der Vorstufen zur »Madonna im Grünen« (1505/06) etwa glaubt man, dem Künstler beim Denken zuzusehen. Ein feinfühliger Perfektionist war hier am Werk, der immer wieder nachjustiert hat, bald die Madonna in ihrer traurigen Nachdenklichkeit noch ein bisschen würdevoller aufrichtet, bald Christus und dem Johannesknaben im heiteren Kinderspiel näher aneinanderrückt.

Die Komposition im kreisenden Suchlauf des Griffels war ein um 1500 noch keineswegs in allen Malerwerkstätten etabliertes Verfahren. Bei seinem Ausbilder Pietro Perugino dürfte Raffael zunächst noch eine formal simplere Vorgehensweise kennengelernt haben: die Arbeit nach vorgefertigten Schablonen, die je nach aktuellem Bedürfnis allenfalls leicht variiert wurden. In Florenz jedoch löste sich der junge Raffael unter dem Einfluss Leonardos aus dem starren handwerklichen Korsett seiner frühen Lehrzeit.

Unterteilt wird die Präsentation in vier etwa gleichwertig bestückte Themenblöcke. Wir folgen den Spuren des Madonnen-Malers, versenken uns in die allegorischen Darstellungen von Dichtung und Philosophie, um anschließend das erzählerische Geheimnis einiger Historienbilder zu erfahren. Zum krönenden Abschluss entreißt man ein Projekt der Vergessenheit, das zu wesentlichen Teilen nur im Ideenparadies der Zeichnung existiert: Raffaels römische Grabkapelle des Bankiers Agostino Chigi.

Eine Gliederung, die sich auch mit der Chronologie verträgt. Grüßt doch am Anfang des Parcours eine frühe »Thronende Madonna« aus dem Kabinettdunkel. Im puppenhaft zur Seite fallenden Gesichtsoval der Madonna wie in der steifen Segnungsgeste des dickbäuchigen Christuskinds wirkt hier noch der starre Kanon der umbrischen Malerschule nach, aber schon wenig später entstandene Blätter belegen, wie rasch Raffael zur Eigenständigkeit gefunden hat. Als hätte er Neugeborene auf dem Wickeltisch studiert, beginnen die Christus-Babys plötzlich viel natürlicher, viel kindhaft-unbefangener in den gottesmütterlichen Armen zu strampeln. Dem für die »Schule von Athen« vorgesehenen Philosophen Diogenes dagegen könnte der Bettler vor der Haustür zum Vorbild gedient haben, wenigstens, wenn man nach der Silberstiftzeichnung aus Städel-Besitz urteilt, die einen fast Kahlköpfigen, halb Entblößten in zerschlissenem Gewand auf der Treppe zeigt.

Wie Mitleid erregend hilflos demgegenüber die entkleideten Kämpfer, die im nie realisierten Teil der Chigi-Kapelle als Grabwächter gedacht waren! Die blendende Strahlkraft des Auferstandenen hat die Soldaten aus den Rüstungen gehauen. Mit dem Schild oder dem bloßen Arm schützen sie ihre Augen vor einer gleißenden Helligkeit, deren Quelle man nur ahnen kann. Wäre das Fresko ausgeführt worden, es hätte seinerzeit vielleicht den Anfang einer neuen psychologischen Dramatik in Raffaels Oeuvre markiert. Heute bilden die erhaltenen Entwürfe immerhin das grandiose Ende einer Ausstellung.

»Raffael. Zeichnungen«, Städel Museum Frankfurt am Main, Schaumainkai 63. Bis 3. Februar, Di-So 10-18, Mi, Do 10-21 Uhr. Katalog.

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