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Eine mörderische Welt

Die bedrückende Odyssee eines Jungen durch Anstalten der Nazis und der Bundesrepublik

  • Lesedauer: 3 Min.

Was ist das St. Johannes Stift gegen Auschwitz? - »Ich habe Glück gehabt«, meint Fritz Blum. Doch wenn man seine Geschichte liest, fragt man sich: Was soll das denn für ein Glück gewesen sein?

Eines der ersten Gesetze der Nazis betraf die »Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Mehr als 400 000 Menschen wurden zwangssterilisiert, 200 000 vergast, »abgespritzt«, durch Hunger oder Arbeit »ausgemerzt«, wie es im NS-Jargon hieß. Es traf auch Kinder. Selbst in der Anstalt für »Geisteskranke« des St. Johannes Stifts in Marberg/Sauerland war Folter Programm - und wurde zynisch kommentiert. Starb ein Kind bei einer Kaltwasserbad-Tortur, hieß es, es habe ihn der »Seemannstod« ereilt.

Robert Krieg und Daniel Daemgen erzählen eine authentische Geschichte. Sie schildern die Odyssee eines Jungen durch Heime der »öffentlichen Fürsorge« von 1936 bis 1953. Die Euthanasie-Ärzte sowie die Misshandlungen und Morde im Namen der »Rassenhygiene« absegnenden Geistlichen werden auf eingeschobenen Extraseiten vorgestellt; dazu Originalakten, die deren verbrecherisches Tun dokumentieren. Die Täter wurden im Nachkriegswestdeutschland nahtlos weiter beschäftigt. Dr. Theodor Niebel, Psychiater und Leitender Arzt der »Kinderfachabteilung«, in der Fritz Blum zur zeit des Hakenkreuzes litt, wurde 1957 gar noch zum Landesmedizinalrat befördert; er blieb bis zu seiner Pensionierung 1968 unbehelligt.

Es ist kaum zu ertragen, was man in diesem Buch liest. »Niebel führte ... eine Rückenmarkspunktion durch, um mein ›Gehirnwasser‹ zu untersuchen. Wochenlang lag ich mit Schwindelgefühlen und Brechreiz im Bett. Eine mörderische Welt.« Und über die »Ärzte« und Nonnen: »Als Menschen existierten wir nicht für sie. Sie haben nie ein Wort mit uns gesprochen.« Dankbar erinnert sich Fritz Blum nur an die Leiterin der Nähstube der Anstalt, auch eine sogenannte Patientin. »Von ihr erfuhr ich die Wahrheit: ›Die halten uns hier alle für Schmarotzer, die sie durchfüttern müssen. Versuch dich nützlich zu machen. Sie dürfen dich auf keinen Fall ins Erdgeschoss bringen. Da kommt kein Kind mehr lebend raus.‹« Wie durch ein Wunder überlebte Fritz Blum den »Selektions«-Wahn der Nazis. Und er gehörte zu den wenigen, die sich nicht scheuten, das in der NS-Zeit und auch danach - wenn auch nicht in dem mörderischen Ausmaß - begangene Unrecht öffentlich zu machen und Entschädigung zu fordern. Noch Mitte der 60er Jahre stieß er auf ablehnendes Schweigen. Doch schließlich verschaffte er sich Gehör in der Gesellschaft, die die Misshandlung »sozial Minderwertiger« jahrelang stillschweigend akzeptierte.

Man ist erschüttert, wenn man liest, wie er die Nonnen aufsuchte, die das ihm und Zigtausenden anderen Kindern, Frauen und Männern angetane Leid geduldet oder gar gefördert haben. Er wurde kaltherzig abgewimmelt. »Und der Anstaltspfarrer des St. Johannes Stifts August Heide, hat mich schlicht aus seiner Wohnung geworfen.« Man erfährt in diesem Buch, dass noch in den 70er Jahren in der BRD Anstaltsinsassen skrupellos ausgebeutet wurden, für einen Hungerlohn zwölf und mehr Stunden harte Arbeit leisten mussten, Beleidigungen und körperliche »Züchtigung« inklusive.

Das Buch ist als Comic angelegt. Und man fragt sich anfangs bestürzt: Ist das dem Thema angemessen? Die Gattung Comic ist jedoch schon längst nicht mehr auf Klamauk zu reduzieren. Der französische Literaturwissenschaftler Francis Lacassin erhob 1971 den Comic als »Neunte Kunst« in den Kanon der bildenden Künste. Kunst will aufklären. Und das leistet dieses Buch.

Robert Krieg/Daniel Daemgen: »… und über uns kein Himmel«. Graswurzel Verlag. 95 S., geb., 14,90 €

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