Der König ist der König

Dimiter Gotscheff inszeniert am DT »Shakespeare«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Was wird hier gespielt? Wenn man das nur immer wüsste! Der Untertitel zu Dimiter Gotscheffs knallbuntem Shakespeare-Abend lautet: »Spiele für Mörder, Opfer und Sonstige«. Die Sonstigen sind wohl wir, die Zuschauer - denn ohne sie (uns) könnte man sich das Ganze hier sparen. Was also sehen wir? Best of Shakespeare, Shakespeare für Eilige? Immerhin ist »Shakespeare in neunzig Minuten« inzwischen wohl dessen erfolgreichstes Stück. Alle Königsdramen passen in einen einzigen Trailer, mehr will das geschichtsvergessene Internetzeitalter nicht, mehr bekommt es auch nicht?

Doch Gotscheff hat mit seinem dreistündigen Shakespeare-Mörder-Opfer-Sonstige-Spiel anderes im Sinn, schickt lauter giftige Pfeile in Richtung des allzu gesunden Zeitgeistes (diesem Vampir). Die Geschichte: ein fröhliches Schlachthaus. Das Filetstück: die Macht, die Macht und nochmals die Macht. Das ist die Kontinuität aller Geschichte von Cäsar bis Obama und Putin. Die Rolle im Stück ist immer die gleiche, nur die Besetzung wechselt.

Was also sehen wir? Einen blutigen Karneval, die Travestie aller Tragödie? Zumindest ist es von Shakespeare bis zu Stephen King gar kein so weiter Weg. Und wer wollte bestreiten, dass in jedem Stück - allzu - arrivierter Hochkultur auch der Trash wegelagert? Gotscheff, das wird sofort klar, als Margit Bendokat mit lächerlicher Papierkrone auf dem Kopf die Bühne betritt, nimmt das Spiel sehr wörtlich: »Lasst uns von Großem sprechen. Würmer. Grabinschriften.« Das zur Fallhöhe des Abends.

Gotscheff, der Shakespeare durch Heiner Müller liest, erzählt uns die Shakespeare-Mörder-Highlights aus der Sicht der Totengräber. Wie begraben wir die Toten so, dass sie nicht länger als Gespenster unter uns umhergehen? Das ist die eigentliche Frage angesichts der immergleichen Geschichte. Und Gotscheff selber übt sich hier als Totengräber jener falschen Machtanmaßung des Tages. Spiel mir seine Dummheit und Eitelkeit, seine Brutalität und seine immergleichen Intrigen! Das ist dann allerdings ein Flickenteppich, den man schier beliebig zusammensetzen kann. Ein Collage aus Lachen und Mord, aus Tinte und Blut, aus Verschlingen und Verschlungenwerden. Die immer alt-neue Urszene unserer Zivilisation ist eine barbarische. Denn unter dem dünnen Eis der Vernunft brodelt das tiefe Wasser der Triebe und Träume.

Und so gehen wir hinein in diesen Todestraum unserer alt gewordenen Zivilisation, die auf einem riesigen Leichenberg gebaut wurde. Und wie so oft inszeniert Gotscheff hier einen Totentanz. Das ist dann wahrlich kein erhebender, aber ein notwendiger Abend. Wie bohrt man nach Wahrheit in all der Lüge? Mit immer neuen Gesten, mit ungewohnten Betonungen altvertrauter Wörter, mit Verbiegungen und Verdrehungen eigener und fremder Körper, mit Hüpfen und Springen, mit Schreien und Singen. Hier geht das Theater unter, um wiedergeboren zu werden.

Am Ende sind es bloße Bildsequenzen, absurde Szenen, die sich behaupten. Der Rest modert ermordet mit den Repräsentanten einer vergangenen Zeit. Aber vergeht die Zeit überhaupt, ist sie nicht immer da - und wir vergehen an ihr? Ohne Heiner Müller versteht man diesen heimtückisch-paradoxen Shakespeare-Abend wohl kaum. Müller schrieb als Distanzierungserklärung zu »Hamlet« seine »Hamletmaschine«. Sie wurde zu Rettung des Helden, der ein unrettbar verlorener ist und bleibt. »Die Zeit ist aus den Fugen«, heißt es bei Müller in seiner Wende-Zeit-Inszenierung von »Hamlet/ Hamletmaschine«. Hier bei Gotscheff klingt uns entgegen: »Du bist die Fuge, die als nächste bricht.« Fortgesetzte Übersetzungen angesichts des »Horrors vor der Formulierung« (Müller). Der Einzelne stürzt in die Knochenmühle der Geschichte. Ist er nur das Material, das zerrieben werden muss, damit die Maschine weiterläuft?

Aber immer bleibt der Riss, die Beschädigung nicht nur des Menschen durch die Geschichte, auch der Geschichte durch den Menschen. Und so sitzen die Schauspieler hier immer in der ersten Reihe, in seltsamen historistischen Kostümen, und treten auf die Bühne, um sich gegenseitig etwas vorzuspielen. Es ist immer das gleiche Stück von »Hamlet« bis »Othello«, von »Macbeth« bis »Titus Andronicus«: »Der König ist tot. Wer ist der König? Der König ist ermordet. Es lebe der König.« Ja, der König ist der König, wie die Rose eine Rose, und ist er es doch nicht, dann ist es ein anderer. So lebendig vor sich hin sterbend wie bei Gotscheff in diesem Spiel mit Fragmenten sah ich noch kein Strukturthema abgehandelt! Nein, nicht abgehandelt, sondern vorgeworfen, uns immer wieder vor die Füße.

Die Bühne von Katrin Brack: leer, darüber riesige tief - bis knapp über die Köpfe der Schauspieler - herabgelassene schwarze Scheinwerfer, die sich, als seien sie lebendig, mit ihren grellen Lichtern hin und her wenden und dann doch kein Licht in die dunkle Mörder-Szenerie bringen können. Das erinnert an die Bühne an gleicher Stelle bei Gotscheffs Tschechow-Adaption »Krankenzimmer Nr. 6«. Dazu hat Brack einen Affen in die nicht vorhandenen Kulissen gestellt, der sich auch wie der ewige Affe bewegt, aber doch nicht viel mehr ist als ein Einfall, ein postmoderner Fingerzeig, der weder recht zu Shakespeare noch zu Müller passt. Man darf dieses Bühnenbild wohl uninspiriert nennen.

Die Schauspieler dagegen sind in Bestform, beherrschen den schroff-schwebenden Ausdruck zwischen jenen Eindeutigkeiten, die immer lügen. Es ist die zu immer neuen Höhepunkten getriebene Kunst der Übergänge, der Abbrüche und Niederschläge. Das Zusammenspiel von Samuel Finzi und Wolfram Koch: ein Blick in Beckettsche Gegenwelten. Margit Bendokat spielt nicht, sie ist das Gespenst aller Könige, die kamen und vergingen. Ein Hauch von Grab und Fasching. Auch die anderen Schauspieler von Meike Droste, Almut Zilcher bis zu Ole Lagepusch, Peter Jordan und Peter Moltzen zeigen das DT-Ensemble zu einer neuen Ausdrucksstärke gelangt, in der sich Naivität und Intellekt, Körper und Stimme auf hinreißende Art verbinden. Nur Anita Vulesica wirkt vom Spiel mit den Distanzen überfordert. Es gibt auch eine Art Gesang, der klingt immer wie der von Sirenen nach deren Abschaffung mittels erfolgreicher Aufklärung. Aber wir hören sie dennoch.

Und das bleibt von Gotscheffs »Shakespeare. Spiele für Mörder, Opfer und Sonstige«: das Blut der Opfer der Geschichte, das sich mit der Tinte derer vermischt, die darüber schreiben, ohne sie je gesehen zu haben. Außer in jenen Träumen von Angst und Rettung, von Schönheit, Schrecken und Untergang, die Shakespeare und Müller aufschrieben. Ein kluger Abend, der all die vorgefertigten Bilder zerspringen lässt.

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