nd-aktuell.de / 27.11.2012 / Gesund leben / Seite 17

Millionen verschleudert

Tamiflu - das Grippemedikament mit unklarem Nutzen

Millionen Menschen schluckten eine Arznei gegen Grippe und Staaten bunkerten für eine Epidemie Riesenvorräte, die sie später für hohe Kosten entsorgen mussten. Doch bis heute wisse man nicht, ob das Mittel überhaupt hilft, gibt die pharmakritische Zeitschrift »Gute Pillen - schlechte Pillen« zu bedenken.

Die Situation ist skandalös: Oseltamivir (Tamiflu®) gibt es seit vielen Jahren, doch der Hersteller Roche hält nach wie vor Ergebnisse seiner Studien unter Verschluss. Das macht eine Prüfung durch unabhängige Fachleute praktisch unmöglich. Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA, die Zugang zu den Roche-Daten hatte, bescheinigte dem Wirkstoff nur einen bescheidenen Nutzen gegen lästige Grippebeschwerden. In den USA darf der Schweizer Konzern nicht mehr behaupten, Oseltamivir helfe, schwere Erkrankungen wie eine Lungenentzündung oder sogar Todesfälle zu verhindern. Ebenfalls verboten wurde die Behauptung, das Mittel verhindere die Ausbreitung der Grippe.

Währenddessen bescheinigte die europäische Zulassungsagentur EMA dem Medikament, gegen schwere Grippekomplikationen wie Lungenentzündungen wirksam zu sein, obwohl sie gar keine vollständigen Studiendaten hatte. Auch die Cochrane Collaboration, deren Bewertungen den aktuellen Stand des Wissens wiedergeben sollen, beurteilte es positiv. Sie bezog in ihre Bewertung eine Überblicksarbeit von Laurent Kaiser und anderen Autoren mit ein, die zugunsten von Oseltamivir ausfiel. Doch die Hälfte der Autoren dieser von Roche gesponserten Überblicksarbeit waren Angestellte des Pharmaherstellers. Selbst die WHO empfahl Oseltamivir bei Grippe - unter Fürsprache von Experten, die mit den Herstellern von Grippemedikamenten verbandelt waren. Weil das Verfallsdatum eintrat, ohne dass die Medikamente gebraucht wurden, müssen sie wieder entsorgt werden. Ein Abgeordneter im britischen Parlament schlug vor, Tamiflu® zum Streuen glatter Straßen zu benutzen - dann wäre das Geld nicht ganz umsonst ausgegeben worden.

Inzwischen hat die Cochrane-Gruppe weitere Studiendaten von der europäischen Arzneimittelbehörde erhalten - aber nichts von Roche. Konsequent schloss sie in ihrer Neubewertung alle Studien aus, bei denen die meisten Daten unveröffentlicht sind. Danach kam sie zum gleichen Ergebnis wie die US-amerikanische FDA: Das Mittel verringert Grippebeschwerden nur geringfügig. Wie oft Kranke in ein Krankenhaus müssen, beeinflusst es nicht. Oseltamivir kann aber Übelkeit, Erbrechen und andere unerwünschte Wirkungen haben.

Die Cochrane Collaboration fordert Roche weiterhin nachdrücklich zur Herausgabe aller Studienergebnisse auf, und die Fachzeitschrift British Medical Journal wird ab Januar 2013 nur noch Studien veröffentlichen, wenn der Hersteller alle Ergebnisse auf den Tisch legt. nd