ZUKUNFTerFAHREN in Niederkaufungen

Eine Kommune in Hessen erprobt den Individualverkehr von morgen

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 6 Min.

Schon wieder ein Stau auf der Autobahn 7. Kurz hinter der Werratal-Brücke an der hessisch-niedersächsischen Landesgrenze hat ein Sattelzug die Mittelplanke durchbrochen und ist umgekippt. Wahrscheinlich zu hohe Geschwindigkeit, sagt die Polizei. Die Ladung - Paletten voller Getränkekisten - hat sich auf der Fahrbahn verteilt. Die Bergung wird Stunden dauern, die betroffene Fahrtrichtung Nord über Stunden gesperrt bleiben. Hinter der Unfallstelle wächst die Autoschlange schnell auf zehn Kilometer an. Auch die Umleitungsstrecken sind bald überlastet.

Die Alternative zum fast alltäglichen Wahnsinn auf der Nord-Süd-Autobahn findet sich 20 Kilometer weiter südlich: In einer Halle und auf einem Hof des weitläufigen Gebäudekomplexes der Kommune Niederkaufungen bei Kassel stehen zwei Dutzend Elektro-Autos, Elektro-Roller, E-Bikes und Fahrräder mit Wetterschutz aufgereiht nebeneinander. Der Modell-Fuhrpark soll einen Eindruck davon vermitteln, wie künftiger Individualverkehr zumindest teilweise aussehen könnte - die »richtigen« politischen Weichenstellungen und ökonomischen Anreize vorausgesetzt.

Projekt will eine Lücke schließen

»Das herkömmliche Auto wird doch unter seinen Fähigkeiten genutzt«, sagt Thomas Neuroth. Er ist einer der Verantwortlichen des Projekts »ZUKUNFTerFAHREN«. »Der bisherige Pkw-Verkehr lässt sich mehr und mehr durch den Einsatz leichterer, sparsamerer und umweltfreundlicherer Fahrzeuge ersetzen«. Auf der anderen Seite seien viele Aufgaben für das Rad zu schwer, und der Öffentliche Verkehr zu unflexibel durch schlechte Taktung und das »Abhängen« von immer mehr Dörfern und Ortsteilen. Diese Lücke will das Projekt schließen. Die rund 80 Mitglieder der Kommune, darunter etwa 20 Kinder, testen seit zwei Jahren, ob und wie das in der Praxis funktioniert.

Die Kommune Niederkaufungen besteht seit mehr als 25 Jahren und ist eine der größten Lebensgemeinschaften dieser Art in Deutschland. Die Produktionsmittel sind in Gemeinschaftsbesitz, die Einnahmen aus den Eigenbetrieben wie Landwirtschaft, Tischlerei, Catering- oder Altenpflege-Service fließen in eine gemeinsame Kasse - ebenso wie die Löhne und Gehälter des extern beschäftigten Kommunarden.

»Die Kommune ist ideal, um Elektro-Autos, Räder und Transporter zu erproben«, sagt Neuroth. Einzelpersonen könnten sich einen solchen Fuhrpark in der Regel gar nicht leisten. Mehr als 200 000 Euro hat die Anschaffung der Fahrzeuge gekostet, rund zwei Drittel des Geldes kam aus dem Konjunkturpaket II der Bundesregierung. Das Projekt ist zudem eingebettet in die »Modellregion Elektromobilität Rhein-Main«.

Fast alle Kommune-Mitglieder nutzen, gelegentlich oder regelmäßig, eines oder mehrere Fahrzeuge der Öko-Flotte: Das Landwirte-Kollektiv nimmt einen der beiden Transporter zur Fahrt auf die Felder oder zu den Kunden, die Bau-Kombo fährt damit, um zur Baustelle kommen. Wer kleinere Besorgungen zu erledigen hat oder einen Ausflug machen möchte, kann zwischen einem der kleinen Elektro-Autos, Lastenräder oder Hybrid-Velomobile wählen. Insgesamt rund 80 000 Kilometer, sagt Neuroth, seien bislang schon zusammengekommen und hätten dabei 50 000 Kilometer mit herkömmlichen Pkw oder Lkw ersetzt.

»Neue Konzepte erfordern eine Veränderung der Gewohnheiten«, hat Neuroth dabei beobachtet. Zunächst seien diejenigen Fahrzeuge am beliebtesten gewesen, die am wenigsten Veränderung bedeutet hätten: E-Bikes, Autos mit Elektro-Antrieben und die Transporter. Mit den drei Hybrid-Velomobilen dagegen, die mit ihren Wetterschutz-Konstruktionen wie riesige Zigarren oder kleine Zeppeline auf Rädern aussehen, hätten die Kaufunger längere Zeit gefremdelt.

Liebling ist Lastenrad mit Hilfsmotor

Gewöhnungsbedürftig ist auch der kleine Elektro-Laster »EcoKraft«. Das 80 000 Euro teure Flaggschiff der Kaufunger Flotte kommt zwar flott voran, wie Neuroth versichert, und bringt es auf flachen Strecken auf immerhin 80 Stundenkilometer. Im engen Führerhaus überwiegt allerdings der Eindruck extremer Schlichtheit: Das Armaturenbrett und die Innenverkleidung sind aus Aluminium; Schalter und Bedienungshebel wirken, als könnten sie bei fester Berührung abbrechen.

Neuroths eigenes Lieblingsfahrzeug ist ein Lastenrad mit Elektro-Hilfsmotor, er ist schon mehr als 1000 Kilometer damit gefahren. »Es verhält sich wie ein Kombi zum Pkw«, erzählt er, »und fährt sich auch beladen und am Berg dank des Motors doch angenehm wie ein Stadtrad«. Auch andere Kommunarden haben den Einsitzer intensiv genutzt, schon nach anderthalb Jahren war die Felge des Hinterrades durchgebremst.

Der Fuhrpark, in dem sich übrigens alle Fahrzeuge voneinander unterscheiden, wird inzwischen auch für eine umfangreiche und vielfältige Öffentlichkeitsarbeit genutzt. Neuroth und seine Mitstreiter vom Projekt bieten Fahrzeugdemonstrationen, Probefahrten, Seminare, Beratungen und Medienarbeit an. Interessierte Mieter können zunächst einen Fragebogen ausfüllen und so erfahren, welches Fahrzeug am besten zu ihren jeweiligen Nutzungsvorstellungen passt.

Bedingung für die finanzielle Förderung war eine Begleitforschung. Die erfolgte durch das Fraunhofer-Institut und die Universität Frankfurt. Inzwischen liegen auch Ergebnisse vor. »Die Untersuchung hat gezeigt, dass die hier betrachteten Elektro-Leichtfahrzeuge prinzipiell in vielen Fällen geeignet sind, Verkehr mit heutigem Pkw zu ersetzen«, heißt es im Abschlussbericht. Dabei würden Umweltbelastungen reduziert, ein Potenzial zur veränderten Nahmobilität und damit zur Verbesserung des Lebensumfeldes werde eröffnet. Insbesondere »Pedelecs« und Velomobile böten »eine sinnvolle Kombination von individueller gesundheitsfördernder Bewegung und erweiterten Nutzungsoptionen.«

Dabei läuft im Projekt längst noch nicht alles rund. Als ein Problem nennt Neuroth Reparaturen und Ersatzteile. Einige der Hersteller sind inzwischen pleite, ein Netz von Werkstätten und Service-Stationen besteht noch nicht einmal in Ansätzen. Zudem mussten mehrere Fahrzeuge auf Lithium-Batterien umgerüstet werden, weil die ursprünglich eingebauten Blei-Akkus früher als angegeben schlapp machten oder die Reichweiten-Anzeige nicht stimmte.

Zurück auf der Autobahn. Ein Kran hat den umgekippten Lkw zwar inzwischen aufgerichtet; bis er zur Seite geschleppt und wenigstens ein Fahrstreifen freigegeben ist, soll es aber noch dauern, heißt es im Verkehrsfunk.


Mit dem neuen Forschungsprojekt »WiMobil« untersucht die Universität der Bundeswehr die Nutzung von Car Sharing mit Elektroautos in München und Berlin. Ab dem II. Quartal 2013 sollen Nutzerbefragungen sowie Aufzeichnungen von Nutzerverhalten mit Hilfe von Apps Aufschluss darüber geben, wie und von welchen Zielgruppen E-Car Sharing genutzt wird, in welchen Gebieten es Nachfrage gibt, welche Umweltwirkungen die Systeme sowie die Ladeinfrastruktur haben und welche Entwicklungsszenarien sich daraus für E-Car Sharing Systeme ergeben.
Für die Untersuchung stellen Auto-Hersteller und –Verleihfirmen 60 vollelektrisch angetriebene Pkw zur Verfügung. Die Deutsche Bahn bringt ihr bestehendes Car Sharing System Flinkster ein. Durch die Einbindung von Berlin und München soll auch die Rolle der Städte bei der Einführung von E-Car Sharing analysiert werden: Der Schwerpunkt in Berlin soll auf den Themen Parken und Laden liegen, in München auf der Frage, über welche Einflussfaktoren die Kommunen verfügen. Im Ergebnis wird ein Leitfaden entstehen, wie Car Sharing in die städtische Mobilität integriert werden kann und welche Auswirkungen sich auf Mobilität und Umwelt ergeben. Das Projekt wird vom Bundesumweltministerium gefördert und hat eine Laufzeit von drei Jahren. (R. Paul)

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