Einer grunzt, einer lacht

Über das Mindeshaltbarkeitsdatum des Kapitalismus

  • Mathias Wedel
  • Lesedauer: 3 Min.

Schneeschieben ist so ähnlich wie »Die Flucht« mit Frau Furtwängler oder »Die Flut« mit Helmut Schmidt - eine kleine Katastrophe, ein bisschen Heldentum. Da ruft man einander starke Sachen zu. »Scheiß Schnee!« natürlich. Aber auch: »Früher haben wir Schnee geschoben, damit keiner auf die Schnauze fällt, heute aus Angst vor dem Ordnungsamt.« Einer lacht, einer grunzt. »Früher«, das ist, wo ich wohne, nicht etwa zu Zeiten, als uns die Schweden besetzt hielten, nicht zu D-Mark-Zeiten oder als Guttenberg noch Doktor war - »früher« ist bei uns Synonym für »unter Honecker«.

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: In der Diktatur haben wir Schnee aus Menschenliebe geschoben, in der Demokratie schieben wir Schnee unter der Diktatur des Ordnungsamtes, quasi unter der Folter, in knechtenden Verhältnissen, in denen die Menschenliebe zur baren, nackten Zahlung (Ordnungsstrafe!) verludert ist!

Und weil das hoffentlich das letzte Schneeschieben vor Silvester war, sagt einer, als wir uns Zigaretten in die Gesichter stecken (wie »früher«, als das noch nicht absolut tödlich und bei Ordnungsstrafe verboten war): »Wieder ein Jahr im Kapitalismus hinter uns gebracht!« Einer grunzt, einer lacht.

Erst mit dem Rücken am Ofen fällt mir auf, wie absurd das ist. Das ist ja, als würde man schon wissen, wann Elton John dem Kapitalismus sein »Candle in The Wind« singen wird, und wir jetzt die Jahre runterzählen, wie die Jahre bis zum Renteneintritt oder bis zur Fälligkeit der Lebensversicherung.

Im Osten Deutschlands glauben nicht viele an den lieben Gott, aber viele (zwei Drittel, auch junge) glauben, dass der Kapitalismus eine endliche Veranstaltung ist. So richtig traurig findet den Gedanken keiner. Man mag die Merkel schnuckelig finden - der Kapitalismus mutet einem doch zu viel zu. Allein dieses Fernsehen (ab Januar mit Zwangsgebühren, wie in der Diktatur)! Diesen Wulff, diesen Gauck, die Eurokrise, anderthalb Dutzend gemeingefährliche Geheimdienste, die Verhöhnung der Armen und die Speisung der Fernsehköche - anstatt umgekehrt!

Wenn man das Haltbarkeitsdatum für den Kapitalismus wüsste, würden die Silvesterpartys im Osten von Jahr zu Jahr krachender werden. Und wenn es eine Partei gäbe, die glaubhaft versichern könnte: Das schaffen wir im Gegenplan sogar noch früher! - die könnte sich vor helfenden Schneeschiebern nicht retten. Aber die gibt es ja nicht.

Doch leider, wir wissen das Datum nicht. Er riecht zwar schon obergärig, faulend (Lenin), der Kapitalismus. Zugleich ist er so alternativlos, wie auf 2012 alternativlos 2013 folgt. Wie schon Friedrich Engels sagte: Freiheit, das ist die Einsicht in die Alternativlosigkeit.

In der Zwischenzeit kann man sich aussuchen, was einen mehr ängstigt als die Ausbeutungsverhältnisse - die Klimakatastrophe, die Alterskatastrophe oder dass jeder Zweite dement wird bzw. dick. Oder lieber die Sache mit dem sich nähernden Meteor: Der wird die Erde treffen, statistisch gesehen in 40 000 Jahren. Aber wenn auch dann noch die Merkel regiert, wird es natürlich nur halb so schlimm.

Derweil ist eine glühende Vision so hilfreich wie gute orthopädische Einlagen. Etwa die, dass der Arme aus dem Souterrain dereinst mit dem Fahrstuhl hoch ins Penthouse fahren und dort die am Dachterrassenpool lungernde Hausfrau um einen Flaschenöffner bitten kann, für die Pulle Hasseröder, die er mitgebracht hat.

Dass der Personenaufzug fast auf den Tag genau so alt ist wie die Deutsche Sozialdemokratie, ist einerseits Zufall. Anderseits wird man das Gefühl nicht los, dass die beiden einander brauchen. Beim Sturm aufs Penthouse die Treppe nehmen? Dafür lohnt doch der ganze Aufwand nicht!

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