Frisör im Gefängnis

Peter Sloterdijk: »Zeilen und Tage«, Notizen 2008 bis 2011

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Haare, die auf dem Weg in den Nacken sehr geradlinige, ja: strähnige Wege gehen. Im Gegensatz zu den Sprachbildern, die er unter der Kopfhaut türmt. Peter Sloterdijk, 1947 in Karlsruhe geboren, dort Professor - er brennt und knäult die Locken seines sehr beweglichen Geistes; er tut es mit der Lust eines Mannes, der überall nur Glatzen sieht. Auf denen er sich tummelt, in der unaufhörlichen Hoffnung, es sei Glatteis. Denken ist ihm: freier Fall. Provokation. Kopfüber in Höhen.

Er ist kein Moralist, er ist spielerisch, ist philosophischer Erzähler, erzählender Philosoph. Seine »Kritik der zynischen Vernunft« (1983) wurde zum meistverkauften Philosophiebuch des 20. Jahrhunderts. »Sphären«, »Du musst dein Leben ändern«: sprachschäumende Bände. Er genießt Fettnäpfe, hat die Tür der Frankfurter Schule zugeknallt. Es werde nicht mehr am Meisterplan des homogenen Geschichtsmodells gearbeitet, sagt Sloterdijk, »eine beruhigende Tatsache« dies, aber mit »Zorn und Zeit« schuf er doch ein flammendes Porträt der Empörung, diesem stärksten wie zerstörerischsten Motor der Geschichte. »Die linke Revolution macht man nicht im Namen der Gier, sondern des Stolzes und seiner beiden moralischen Derivate, des Zorns und der Empörung. Sobald die Linke Gierpartei wird, implodiert sie und wird Teil der totalen Mitte.«

Skandal!, schreit der korrekte blasse Moralismus gern wider ihn, sperrt den Philosophen zum Pop und hat am Ende doch nur immer sich selber zum Schweigen gebracht. Gehässige nennen ihn den »Felix Krull der intellektuellen Szene«. Aber: Wo andere argumentieren, hat Peter Sloterdijk - Gedanken. Und keinem gelang es bisher, diesen Geist auf just jenem Sprach- und Phantasieniveau zu widerlegen, das er vorgibt.

»Es ist ein Fehler, wenn Menschen sich leichter geben, als Menschen sein können. Aber ein Fehler wäre es auch, die Tragödie vom Zaun zu brechen, nur damit wir uns wieder mit dem ontologischen Adel des Schweren schmücken dürfen. Mir kommt das einfachste Leben schwer genug vor.« Dieses Leben, ein behauptungsstarkes, thesentolles Fragen und Fabulieren am Rande des schulphilosophisch Erlaubten und Gemäßigten - jetzt wurde es ein Buch der besonderen Art. »Zeilen und Tage« ist ein Logbuch des täglichen Kurses, daheim, auf (ungeliebten) Reisen, auf Tagungen; das Buch führt gleichsam von den Frühgedanken des mählichen Erwachens bis zu den Späteinsichten eines stets sehr genauen, sehr aufgelegten Tag(werk)beobachters.

Sloterdijk notiert Eindrücke, Eingebungen, er ist Aphoristiker, schreibt Miniaturen zwischen Essay und Erzählung, beobachtet sich und die Welt, betrachtet sich in der Welt, ist sich die Welt. Lesers Lust, in diesem Buch einem flammenden Assoziationsfeuer zu folgen wie einer Lunte, die Geist an die Diskurs-Öde legt, erfährt immer wieder Steigerungen. Es ist dies - wider »das depressive Gemaule der Vernünftigen« - ein blitzgescheiter Geist, der sehr viel von jenem Punkte weiß, auf den Denken kommen muss, wenn es denn faszinieren soll.

Den Sozialphilosophen Ulrich Beck bezeichnet er als einer jener »Virtuosen der vagen Rede, die es vorziehen, ungefähr recht zu behalten, als sich genau zu irren«. Den jüdischen Stress definiert er so: »ein so kleines Volk, ein so großer Gott, wenn das mal gutgeht.« Das Unglaubliche sei »der einziige Maßstab, an den zu glauben immer richtig ist.« Und was man Geistesgeschichte heiße, das »beruht auf der Illusion der Rückwärtskompatibilität von Ideen«. Auch spricht er sarkastisch von einer gegenwärtigen »Diskursklassengesellschaft«: nach oben werde zitiert, nach unten abgeschrieben.

Das Großartige des Buches besteht in der Maßstabsetzung für einen Wahrnehmungs- und Gestaltungsstil, der auf bestechende Weise die Frechheit dieses Philosophen offenbart. Er präsentiert sich nämlich, als würde ihm seine eigentliche Rolle nicht genügen, als glänzender Feuilletonist, dem die Disziplinen ineinander übergehen. Sloterdijk versteht sich als Denkenden, der sich fragt, was er »für den Menschen in der Beklemmung« tun kann. Beklemmung ist unsere Existenzform, und Vorsicht! »Den ursprünglichen Horizont kann man nicht erweitern.« Und er möge so unerweitert bleiben, wie man es in der Metapher der Savanne fassen kann, diesem löblich mittleren Sichtzirkel. »Das Nicht-Sehen des Gleichzeitigen, das anderswo passiert, ist kein Ignorieren, sondern ein ursprüngliches Verschontsein von Aussichten in die maßlose Maschinerie. Sieht man zu viel, rückt der Wahnsinn näher.« Auch in die Zukunft soll man nicht allzu rabiat und ungehemmt sehen wollen. Der Mensch in der modernen Welt: gewarnt vor zu viel Mut für neue Ufer und utopische Panoramen.

Es gibt kein Großthema, das nicht die unbändige Neugier Sloterdijks weckt. Er denkt über Dietmar Dath nach, ist ergriffen von Martina Gedeck, analysiert Ortega y Gasset, entwirft farbenprächtige oder impressionistisch getupfte Reisebilder, schreibt über Nietzsche, Hegel, Trotzki, Napoleon. Den Freund Slavoj Zizek nennt er einen »Revolutions-Entertainer«.

Über Reinhold Messner: »Zum Gipfel soll nur kommen, wer eine innerlich notwendige Verabredung mit dem Äußersten hat. Am meisten berührt mich, was Messner über seine Nachtängste sagt. In diesen furchtbaren Ekstasen am Berg, verlassen, dunkel, eisig, aussichtslos, kommt es nur noch darauf an, bis zum Tagesanbruch durchzuhalten. Man sollte das Wort Brüderlichkeit reservieren für Menschen, die wissen, was das heißt.«

Sloterdijk ist ein Buch gelungen, das perlt. Ach ja, noch mal die Haare und des Autors heller Witz. In Paris fragen ihn Studenten, seit wann sein Frisör im Gefängnis sei. Sloterdijk antwortet: »Seit 1968. Sieht man das nicht?«

Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011. Suhrkamp Berlin. 639 S., geb., 24,95 Euro.

P.S.


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