Häuser Marke »Selbstbau«

Eine Berliner Genossenschaft bietet seit 1990 niedrige Mieten und Gemeinschaft

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Brigitte Riemer das Licht der Welt erblickte, herrschten ringsherum Chaos und Tod. Die 69-Jährige wurde in einer Bombennacht im Luftschutzkeller der heutigen Spittastraße 24 in Berlin-Lichtenberg geboren. Viele Jahre später steht sie vor der Tür zu der Wohnung, in der sie ihre Kindheit verbrachte. Uns, den heutigen Bewohnern, erzählt sie bei Kaffee und Kuchen ihre Geschichte, in der viel vom Leben auf engstem Raum die Rede ist. Unsere vierköpfige Familie verfügt heute über 110 Quadratmeter Wohnfläche. In Brigitte Riemers Kindheit lebten auf dem gleichen Raum zehn Menschen, und mit den meisten von ihnen war sie nicht einmal verwandt. »Es war eine große Gemeinschaft hier im Haus«, erzählt sie.

Eine große Gemeinschaft lebt auch heute wieder in dem Gründerzeithaus. Es gehört zur Mietergenossenschaft »Selbstbau«, die im März 1990, also noch zu DDR-Zeiten, im Stadtteil Prenzlauer Berg von Mietern zweier Häuser gegründet wurde. Aus dieser »Keimzelle« entstand nach und nach ein Netzwerk aus mittlerweile 17 Hausprojekten, annähernd 400 Mitgliedern, zahlreichen Gewerbeeinheiten; in den Wohnungen leben heute mehr als 1000 Menschen. Die Kernidee: Mieter kaufen über die Genossenschaft ihre Häuser selbst und sanieren sie, damit sie nicht Investoren in die Hände fallen. Für die Meisten war dabei Muskelkraft das Hauptkapital, denn über eine nennenswerte Menge Geld verfügten nur die Wenigsten.

»Bei der Genossenschaftsgründung haben sich viele noch gefragt, ob es nicht doch besser ist, weiter zur gewöhnlichen Miete zu wohnen«, erzählt Peter Weber, Geschäftsführer und Gründungsmitglied der »Selbstbau e.G.«. Wer sich aber heute im Stadtteil Prenzlauer Berg umschaut, wird feststellen, dass die Entscheidung für eine Genossenschaft die bessere war. Die Nettokaltmieten der »Selbstbau«-Häuser liegen zwischen 2,50 Euro und 5,50 Euro pro Quadratmeter - je nach den Grundstückskaufpreisen, den jeweilig erforderlichen Sanierungskosten und der geleisteten Eigenarbeit der Bewohner. Diese Mieten liegen deutlich unterhalb der aktuellen Vergleichsmieten in Prenzlauer Berg - und sinken sogar noch tendenziell nach Abzahlung des Kauf- und Sanierungskredits.

Was aber macht eine Mietergenossenschaft anders als andere Genossenschaften? Die profane Antwort: Sie vereint für die Bewohner der Häuser die Vorteile des Wohnungseigentums (Mitspracherecht in Fragen der Gestaltung des Hauses, bei zukünftigen Investitionen und bei der Belegung der Wohnungen) mit denen eines Mietverhältnisses (sämtliche Verwaltungsaufgaben, Verhandlungen mit Banken, Behörden usw. werden von der Genossenschaft erledigt).

Es gibt noch eine andere, eine soziale Antwort auf die Frage nach den Mietergenossenschaften: Sie entwickeln das Wohnen in der Stadt zu einem Gemeinwesen - angefangen von der Sanierung bis hin zum lebenslangen Wohnrecht - und lassen dabei Raum für individuelle Entfaltung. Es gibt Wohngemeinschaften, kleine Single-Wohnungen, Familienwohnungen, Räume für Geburtstagsfeiern und gemeinsame Fernsehabende. In der Berlin-Lichtenberger Spittastraße trifft sich nicht nur die Hausgruppe zu den monatlichen Versammlungen - es werden auch Yoga-Kurse angeboten und einmal pro Woche probt dort der Kiez-Chor »Viktor«, der von einer Bewohnerin des Hauses ins Leben gerufen wurde.

Man kann sich in einem Genossenschaftshaus darauf verlassen, in Notlagen von den anderen Hilfe zu erhalten. Die Vorzüge des genossenschaftlichen Zusammenwohnens betont auch Christian R., der in einem Haus der »Selbstbau e.G.« im Bezirk Mitte wohnt. »Soweit ich weiß, bereut es niemand in unserem Haus, dieses Projekt mitgemacht zu haben, auch wenn die Belastungen körperlicher, zeitlicher und finanzieller Art enorm waren und es letztere auch immer noch sind. Wir freuen uns auf den Moment, da wir die letzte Rate für die Hypothek aus dem Jahr 1994 überweisen. Dieses Jahr soll es soweit sein. Spätestens dann haben wir den ultimativen Grund für ein gemeinsames rauschendes Fest.«

In Lichtenberg hingegen wird es mit dem großen Fest noch ein wenig dauern, denn der Hauskredit muss noch einige Jahre lang abbezahlt werden. Eines ist aber jetzt schon sicher: Brigitte Riemer wird auf der Gästeliste stehen.

Leseprobe: Das Buch zur "Selbstbau"

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