Gert Lange: Mit Goethe in Malcésine

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Malcésine am Gardasee. Sonnenglanz ringsum auf den Fassaden, am Hafen sitzen, ein glitzerndes Geviert, das sich in die Häuserzeilen schneidet, wie es nur noch selten zu sehen ist - meist wurden die alten Häfen zugeschüttet, um Gewerbefläche zu schaffen -, im Schatten eines Ficusbaumes kühlen Bardolino trinken, dem Treiben auf dem Wasser und sommerlich gekleideter Touristen zuschauen - das sind glückliche Momente.

Am Nebentisch schlürft ein junger Mann am Eiskaffee. Sonderbar gekleidet, schwarze, scharf gebügelte Hose, schwarzes Jackett, Hemd mit Manschettenknöpfen. Er liest in einem Buch. Ich versuche, den Titel zu erkennen. Englische Schrift, ah, der »Zauberberg«. Wir kommen ins Gespräch. Er studiert in Oxford. Alle Achtung, aber lesen hier, an diesem heißen Tag?

»Sehen Sie, Malcésine«, sagt er. »Die ehrwürdigen Palazzos, die Scaligerburg, die Weinkeller und Handelshäuser. Dort in dem Hotel hatte Garibaldi sein Quartier. Und in der Seitenstraße wohnte Goethe. Malcesina hat Geist, besonderes Flair. Sie kennen das von Weimar bei Ihnen zu Hause. Aber Thomas Mann liegt mir näher als die Klassik. - Waren Sie schon im Goethe-Museum auf der Burg?«

Goethe in Malcésine? Das war mir neu. Ich war wegen des Hafens und der alles beherrschenden Burganlage hierher gekommen. Sie ist neben Sirmeone am Südufer die mächtigste Festung des Scaligergeschlechts am Gardasee. Aber richtig, Goethe auf Italienreise! Von Rovereto kommend, unterwegs nach Verona, hat er auch Malcésine gestreift. Eine Episode, die in keiner Biografie beschrieben wird. Dass einen ein britischer Student über Goethe aufklären muss! Das sind die schönen Überraschungen auf Reisen. Impulse, die nachwirken.

Was hat sich zugetragen? »Ein gefährliches Abenteuer«, schreibt Goethe unter dem 14. September 1786 in der »Italienischen Reise«. Tags zuvor, gegen drei Uhr in der Nacht, hatte er in Torbole am nördlichen Ende des Sees, von zwei Ruderern begleitet, eine Barke bestiegen, um nach Bardolino zu gelangen. Auf halbem Weg hinderte sie ein heftiger Gegenwind voranzukommen. Sie mussten umkehren und im Hafen von Malcésine Schutz suchen. Goethe kam in der einzigen Herberge des Ortes unter, die seinerzeit »L'Aquila Nera« hieß und von einer alteingesessenen Familie, den Testas, geführt wurde. Ein schmales Haus in der noch schmaleren Vicolo Cieco di Mezzo, wenige Schritte vom Hafen entfernt. Auf Goethes notgedrungene Übernachtung in dem »Albergo« weist heutzutage eine Marmortafel hin.

War schon die missglückte Überfahrt abenteuerlich genug, das Ereignis, welches er »mit gutem Humor überstand», war seiner Leidenschaft, die Schönheiten der Landschaft zu zeichnen, geschuldet. Nach dem Frühstück stieg der Reisende zum Kastell hinauf, um den bizarren Turm im Skizzenbuch festzuhalten, die Torwölbung, das Mauerwerk im Efeu. Die Festung war unbewacht, eine Ruine, jeder hatte Zutritt, und so versammelten sich bald Neugierige um den seltsamen Fremden. Die Menge schwoll an und war nicht durchweg wohlwollenden Sinnes. Goethe ließ sich nicht stören, bis ein Mann »nicht von dem besten Aussehen«, sein Blatt zerriss. Das sei nicht erlaubt, sagte der Wüterich. Malcésine gehörte damals zur Republik Venedig und war Grenzort nach Tirol. Man hielt den unbedarften Künstler, der seine dilettantischen Kritzelstriche aufs Papier bannte, für einen österreichischen Spion.

Der herbeigerufene Bürgermeister misstraute Goethes Rechtfertigungsversuchen. Doch dem Bedrängten kam zugute, dass er sich in Italienisch, zwar nicht im Dialekt, aber immerhin einigen der Umstehenden verständlich, erklären konnte. Das machte Eindruck, vor allem den Frauen. Überhaupt: Ein attraktiver Bursche, nach Art der Städter gekleidet, von heiterem Charme, weltgewandt. (Mit seinen 37 Jahre immerhin schon Minister eines Herzogtums.) Die Situation war unentschieden, als »eine hübsche junge Frau« rief, man solle den Gregorio heraufholen, der sei in Frankfurt gewesen und könne die Sache beurteilen. Er kam und es ergab sich ein munteres Gespräch über italienische Familien, die in der Mainmetropole lebten und die beide kannten, woraufhin Gregorio dem Podesta beschied, der Reisende sei »ein braver, kunstreicher Mann«. Längst war die Stimmung der Volksmenge, die aufmerksam gelauscht hatte, in Sympathie umgeschlagen, und Goethe erhielt die Erlaubnis, sich nach Belieben im Ort umzusehen.

Der Wirt wich nicht von seiner Seite, rechnete er doch auf einen Zustrom von Gästen, wenn der Fremde in seinem Land über das sehenswerte Malcésine berichtet. Goethe hatte Mühe, die freundliche Zudringlichkeit des Begleiters zu unterbrechen und sich seinem Befreier Gregorio dankbar zu erweisen, der beteuerte, der Herr Künstler sei nur deshalb nicht verhaftet worden, weil der Bürgermeister zu faul gewesen sei, die damit verbundenen Umständlichkeiten auf sich zu nehmen. Aber den Ablauf der Episode genau betrachtet, hatte weder Gregorio noch der Bürgermeister in kritischer Stunde das Schicksal gewendet, sondern der Verstand jener »hübschen jungen Frau«. Goethe erwähnt sie nicht mehr.

Es ist Elisabeth Mentzel (1849 bis 1914) zu danken, einer schriftstellernden Lehrerin, dass sie Licht in die aus der unmittelbaren Wahrnehmung nur andeutungsweise niedergeschriebenen Aufzeichnungen Goethes brachte. Sie konnte nach peniblen Recherchen die Stunden, die Goethe in Malcésine zugebracht hat, rekapitulieren (soweit Belege und Indizien es zuließen, veröffentlicht 1908). Ihr gelang es auch, den »Befreier« zu identifizieren, was dadurch erschwert wurde, dass Gregorio ein allgemeiner Beiname war, dessen sich viele bedienten. Der Goethesche Gregorio war Giovanni Battista Saglia, der einzige Gregorio, der einen Weinberg südlich des Städtchens besaß, auf dem Obstbäume standen, weshalb er Goethe mit einem vollen Fruchtkörbchen verabschieden konnte. Der Wirt war Giovanni Battista Tesla, dessen Enkel nun, als Elisabeth Mentzel die inzwischen greisenalten Nachkommen befragte, der Besitzer des Albergo war. Den Familienüberlieferungen zufolge muss der Großvater gewusst haben, wen er beherbergte.

Die Erlebnisse am Gardasee sind Goethe noch lange in Erinnerung geblieben. Und den Malcésinern ist der vor Jahrhunderten durchreisende Gast mehr als ein Markenzeichen für die Touristenwerbung. Die meisten Italienfreaks dürften Malcésine wegen der Wehranlage auf dem Felssporn über dem Gardasee besuchen. Sie hinterlässt heute einen romantischen Eindruck. Die Scaliger, deren Name dem wenig historisch Bewanderten nur von der Mailänder Skala in Erinnerung ist: ein kriegerisches Patronat, in dem die starke Schwerthand und der Brudermord regierten. Das aber auch dem großen Dante Alighieri Asyl gewährte, als ihm in Florenz der Scheiterhaufen drohte.

In Verona residierend, dehnten die Scaliger ihren Machtbereich bis Padua aus. Ein architektonisches Kennzeichen ihrer Burgen sind die typischen »Schwalbenschwanz»-Zinnen auf Türmen und Mauern. Seltsam, dass sich Goethe für diese Geschichte nicht interessiert hat, auch in Verona nicht; die pompöse Grablege der Scaliger findet keine Erwähnung. Er war zu sehr auf die römische Antike erpicht.

Seit 2008 ist in dem Kastell ein Museum untergebracht, das weniger über die Stadtgeschichte erzählt als viel mehr über die Natur im und um den Gardasee, die Fische, Pflanzen, Strömungen. Und wie die Venezianer im 15. Jahrhundert mächtige Galeeren übers Gebirge geschleppt haben, um ihre Grenze im Gardasee gegen das Herzogtum Mailand zu verteidigen. Unterhalb des inneren Burghofes befindet sich ein separates Häuschen, das einst als Pulverlager diente. Darin ein liebevoll gestalteter Gedenkraum für Johann Wolfgang Goethe, auf den mich mein Tischnachbar hingewiesen hatte.

Es gibt eine kleine Gemeinde im Ort, die sich um das Andenken des Weimarer Klassikers kümmert. Sie hat, entschieden unterstützt vom Casa di Goethe in Rom, das Goethe-Memorial ausgestaltet. Mit Kopien seiner Zeichnungen, Reisekarten, alten Ansichten. Und sie taten gut daran, Goethes »Mignon« in schwungvollen Lettern auf einer Tafel darzubieten:

»Kennst du das Land? wo die Zitronen blühn

Im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn ...«

Auf der Fahrt über den Gardasee hat Goethe die kunstvoll angelegten Berggärten am gegenüberliegenden Ufer bewundert, mit Zitronenbäumen bepflanzte Terrassen: Limone, nomen est omen. Zum ersten Mal genoss Goethe mediterranes Klima. Die Menschen, wie er sehr bald merkte, von unbekümmerter Offenheit. Gewohnheiten, die er nicht kannte.

Als ich mich in der Scaligerburg umsah, fand ich die Mauereinfassung eines ansteigenden Weges mit Blumen und Luftballons geschmückt. Auf einer Plattform über der Stadt festlich gekleidete Leute. Ein Priester erschien im schwarzen Talar. Eine Trauung unter freiem Himmel. Das ist bestimmt etwas Seltenes in Italien. Und nicht nur dort. Nach der Zeremonie kam die Gesellschaft, von einem Harmonisten begleitet, den Berg herunter. Die Braut zog eine Rose aus ihrem Bukett und legte sie unter den Bronzekopf Johann Wolfgang Goethes, der vor dem Eingang der Gedenkstätte nach Süden, in Richtung Rom schaut. Sie hätte jene hübsche, junge Frau sein können, die seine Kerkerhaft verhindert hat.


Gert Lange, 1940 in Dresden geboren, hat nach dem Studium der Journalistik viele Jahre als Wissenschaftsjournalist gearbeitet (»Wochenpost«, »Spektrum«, »Das Magazin«, seit 1976 freiberuflich). Er nahm an mehreren Polarexpeditionen teil. In einer Mischform aus Erlebnis- und Ergebnisbericht entstanden die populärwissenschaftlichen Bände »Bewährung in Antarktika», »Sonne, Sturm und weiße Finsternis«, »Eiskalte Entdeckungen».

Meinungsbeiträge, philosophie-historische Texte und belletristische Versuche veröffentlicht Gert Lange unter dem Pseudonym Jens Grandt. Als Rezensent für überregionale Medien liegt ihm die Popularisierung akademischer Langzeitvorhaben besonders am Herzen. In der Streitschrift »Ludwig Feuerbach und die Welt des Glaubens« sowie in Reflexionen zur Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) verbindet er historisches Gedankengut mit Debatten und Erscheinungen der Gegenwart.
Gerhard Kießling

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