nd-aktuell.de / 16.01.2013 / Kultur / Seite 14

Die Ausweitung des Hohlraums

Unwort des Jahres

Thomas Blum

Bereits beim Erklingen eines Begriffs wie »Arbeitsmarktreform« sollte man in Deckung gehen. Das Wort muss, wie viele andere auch, erst übersetzt werden, damit sich der ihm innewohnende Realitätsgehalt erschließt. Das Wort bedeutet, dass die Rechte von Arbeitnehmern eingeschränkt werden. Zum »Unwort des Jahres« 2012 gekürt wurde nun das Wort »Opfer-Abo«.

Der Fernsehmoderator Jörg Kachelmann hatte es in einem Interview verwendet. Der Begriff stelle Frauen »pauschal und in inakzeptabler Weise« unter den Verdacht, sexuelle Gewalt zu erfinden und selbst Täterinnen zu sein, kritisierte die Jury. Auf dem zweiten Platz findet sich der Ausdruck »Pleite-Griechen«, auf dem dritten »Lebensleistungsrente«.

»Spiegel Online« zufolge kommen für die Wahl zum sogenannten Unwort all jene Begriffe in Frage, »die die Menschenwürde verletzen« oder »einen Sachverhalt verschleiern«. Das wären unzählige hierzulande, bringt doch das in der verwalteten Welt des Kapitalismus verkümmernde Denken notwendigerweise auch eine Sprache hervor, die nur noch in ihren Restbeständen existiert und teils bloß noch aus Gestammel besteht: »Super-Spar-Preis« etwa.

Vom Menschen als »Humankapital« oder »Humanressource« ist heute völlig arglos die Rede. Ein von PR-Beratern, »Wirtschaftsvertretern« und ihren Spin Doctors entworfenes Beamten- und Technokratenkauderwelsch (»Euro-Rettungsschirm«, »Kompetenz-Zentrum«, »Schuldenbremse«, »Positionspapier«) konkurriert in den Medien heute ganz selbstverständlich täglich mit einem infantilisierten Reklamegestammel und konditioniert so beständig das, was von unserem Denken noch übrig blieb. Und wer sich früher »Antifaschist« nannte, heißt heute »zivilgesellschaftliche Akteur_In«.

»Die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein - im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen«, schreibt Viktor Klemperer in seiner sprachkritischen Studie »LTI« (»Lingua Tertii Imperii«).

Mehr als 1000 Vorschläge sollen bei der Darmstädter Jury eingetroffen sein, die das Unwort auswählt. Ein Wunder, dass es nicht 10 000 waren, zieht man in Betracht, dass die Sprache der Gegenwart oft nur zur »verbalen Hohlraumummantelung« dient, wie es der scharfsinnige Sprachkritiker Michael Rudolf einst formuliert hat.

Die Kür des Unworts ist in heutiger Zeit zu einem alljährlichen Ritual geworden: Die Medien stürzen sich bereitwillig darauf, um an ihm exemplarisch die »inhumane« Sprache zu zeigen und gebetsmühlenhaft mehr »Menschenwürde« einzufordern. Dabei sind es dieselben Medien, von der »Bild«-Zeitung bis zu sogenannten seriösen Blättern - vom Fernsehen ganz zu schweigen -, die Propagandasprech wie »Döner-Morde« oder »Pleite-Griechen« wochenlang Tag für Tag druckten oder versendeten, ohne dass es zu einem plötzlichen Schamgefühl gekommen wäre oder ohne dass ihnen dabei überhaupt etwas aufgefallen wäre.