Wenn Bierbichler singt ...

Thomas Ostermeier inszenierte an der Schaubühne Berlin den »Tod in Venedig«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn der gewaltige Schauspieler Josef Bierbichler eine Suppe löffelt, kostet ein Bauer vom Kraftfutter der Erde. Wenn er als Gustav von Aschenbach Lieder Gustav Mahlers singt (der Komponist diente Thomas Mann als Vorbild für seine Hauptgestalt in »Der Tod in Venedig«), dann zieht das All einen dünnen Schmerzfaden aus einem blutenden Gemüt. Wenn Bierbichler sich den Mund grellrot schminkt, dann ist es, als stelle er sich einen Ausweis für verruchteste Lusthöhlen aus. Wenn Bierbichlers Dichter dem Knabenzauber, dem Zauberknaben Tadzio hinterherschaut, dann streitet sich in diesem Altmännerkorpus das Nichts der Apathie mit dem Letztfeuer der Begierde, kämpft das innere Ächzen einer verbotenen Leidenschaft gegen die Dynamik der Gewissensbisse.

An der Berliner Schaubühne hatte jetzt »Der Tod in Venedig/Kindertotenlieder« nach Thomas Mann und Gustav Mahler Premiere, Regie: Thomas Ostermeier (Bühne: Jan Pappelbaum, Choreographie: Mikel Aristegui) - eine Koproduktion mit dem Theatre National de Bretagne in Rennes. Eine Assoziationsstudie zu Manns Erzählung, in der ein Dichter, nach Italien gereist, um Freiheit zu atmen, durch Anblick eines Knaben zutiefst erschüttert wird. Plötzlich ist Freiheit etwas anderes: der Lockruf des Undenkbaren.

Bierbichler lässt seinen Dichter erschauern und keck blicken, dieser Dichter ist ein Mensch, der das Maß dafür zu verlieren droht, sich in fortgeschrittener Verwitterungsphase so zu verhalten, dass man nicht lächerlich wirkt. Aber jedes Mal kurz vor diesem endgültigen, abfertigenden Befund des Lächerlichen schafft Bierbichler etwas, das ihn groß macht: Über aller Gestaltung liegt ein nicht löschbarer Schimmer frivolen Mitleids. Der Schauspieler offenbart uns die Urkraft einer subversiven Verausgabung, die Grenzen sprengen will und zugleich Angst vor all dem hat, was dahinter liegt; er zeigt uns, gefesselt an einen tief verinnerlichten Ordnungs- und Vernunftsinn, wie die gebundenen Hände doch nach den heißen Gestirnen der Unzucht greifen. Der Künstler als Gleichnis. Auf jenes ewig Unbefriedigte, das den schwülen Traum benötigt, um in der Welt mehr sehen zu können als eine Lebensdienstverpflichtung. Die seelischen Leiden besiegen, indem man ihnen fantasierend entgegengeht; dem Trieb gedanklich folgen, bis einer die Reiseführerschaft übernimmt, der eher am Körper interessiert ist: der Tod.

Thomas Mann hat seine Novelle als gelungen bezeichnet, später als »falsch«. War Zweiteres der Riegel, den er vor die Wahrheit schob? Weil er in der Offenlegung einer Knabenliebe zu weit gegangen war, nämlich den kürzesten Weg zu sich selbst? Ostermeier lässt den Knaben Tadzio (Tobias Ostermann) die Blicke Aschenbachs ausdauernd erwidern: Immer wartet Liebe aufs Augenlicht - und so innig, ja frech wie der Junge, so schaut die Zukunft, diese sehnige, kräftige geheimnisvolle Magierin, auf den Vergänglichkeitskasper Mensch. Der seine Lust auf Leben beliebig reproduzieren kann, der sich als Gebieter über seine Lüste wähnt - bis er von einer tiefen Spur Bedeutung, die diese Lust schafft und hinterlässt, unrettbar überwältigt wird. Ein Zustand zwischen peinlicher Blöße und plagendem Versteckspiel.

Fünfundsiebzig Minuten. Hinten die hohen Gardinen bewegen sich in leichtem Wind; draußen hellste Helle. Die Bühne: eine Hotelhalle, ein Restaurant. Timo Kreuser entlockt dem Klavier spielend, zupfend, klopfend, Schläge erzeugend zarteste wie dröhnendste Klanglagen. Eine Videoleinwand taucht die Gesichter Aschenbachs und des Jungen in die flimmernde Stimmung eines alten, zerkratzen, sepiagetränkten Films, der, von wo auch immer, herübergerettet wurde.

Kay Bartholomäus Schulze liest in einem Glaskasten weit hinten Passagen aus Manns Novelle, unterbricht den Ablauf, liest Platon, steht plötzlich wie ein Regisseur zwischen Probenden. Sabine Hollwecks füllig wogende Gouvernante setzt mit weicher Wucht, die fest im überraschungslosen Schicksal einer Angestellten steht, die Kraft eines abenteuerlosen Lebens gegen jenen höheren Hauch, der den Dichter sphärenhaft befingert.

Tadzios drei Schwestern (Martina Borroni, Marcela Giesche, Rosabel Huguet) perlen kieksend über die Bühne, als sei und bleibe hier alle Weiblichkeit ein unbedarftes Kind - drei Tänzerinnen, die im Schlussbild, unterm Schneefall schwarzer Papierfetzen, das venezianische Seuchen-Inferno bebildern, von dem Aschenbach weggerafft wird. Ein Tanz zwischen der treibenden Aggression der Viren und dem letzten Krampf der Opfer.

Viel experimentelle Anstrengung an diesem Abend. Literatur im Labor. Die Kühle einer Denkübung. Ostermeier, ein ergriffener Intellekt, porträtiert weglose Herzen. Und Bierbichler singt, manchmal nahezu unhörbar, es ist Gesang wie das Zischen der Asche, wenn ein Brand dagegen anweint, ständig gelöscht zu werden.

Einmal sitzt Tadzio und entfernt sich einen Dorn aus dem Fuß. So hat Kleist einen Jüngling beschrieben, der die Grazie einer römischen Statue (»Der Dornauszieher«) nachahmt. Es kann dem Jüngling nicht gelingen: Anmut ist keine Erscheinungsform des Menschen, seit er aus dem Paradiese vertrieben wurde und sich ein Bewusstsein aneignete, das jede Leidenschaft mit Zweck, Taktik, Finte umkleidet.

Lebens-Lust muss auffliegen! Aber wie oft verfliegt sie just deshalb, weil wir ihr Flügel wünschen und herbeidenken.

Nächste Vorstellungen: 23., 24.2.

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