nd-aktuell.de / 24.01.2013 / Politik / Seite 20

Schreiben die Kasachen bald lateinisch?

Vierte Schriftreform innerhalb von 100 Jahren geplant

Irina Wolkowa, Moskau
Der Übergang zum lateinischen Alphabet steht in Kasachstan seit der Souveränitätserklärung 1990 auf der Tagesordnung. Jetzt soll es offenbar Ernst werden. Präsident Nursultan Nasarbajew erhob das Thema bei seiner Jahresbotschaft an das Parlament im Dezember zur Priorität und kam danach bereits dreimal darauf zurück.

Das will angesichts der Macht, die das Grundgesetz für den Staatschef vor sich herschiebt, einiges bedeuten. Auch die Fristen für die geplante Reform wurden nach vorne verlegt. Ursprünglich war das Jahr 2025 angepeilt, jetzt ist von 2015 die Rede. Aus gutem Grund: 2017 ist Kasachstan Gastgeber der Weltausstellung Expo und möchte sich dazu als modernes Mitglied der internationalen Gemeinschaft inszenieren.

Die Schriftreform ist bereits die vierte in knapp hundert Jahren, die auf die Kasachen zukommt. Vor der Oktoberrevolution 1917 wurde in der Ex-Sowjetrepublik die arabische Schrift verwendet - so die Menschen dort schreiben konnten. 90 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten. Das, so Linguisten schon damals, habe nicht nur mit dem unsteten Nomadenleben zu tun. Die arabische Schrift - für jeden Buchstaben gibt es, abhängig davon, ob er am Wortanfang, in der Mitte oder am Ende steht, drei Schreibvarianten - sei extrem bildungsfeindlich.

Atatürk sah das offenbar genauso und verordnete seinen Untertanen im Zuge der Reformen 1928 die lateinische Schrift. Den Kasachen, die zum Nordwestzweig der türkischen Sprachfamilie gehören, diente sie als Vorbild für ein eigenes lateinisches Alphabet, das ab 1929 galt. Darauf hatten vor allem fortschrittliche Intellektuelle gedrängt. Alle türkischen Völker, so ihr Argument, hätten eine gemeinsame Identität und müssten daher auch eine einheitliche Schrift haben.

Auch deshalb ruderte Stalin, dem als Fernziel die Verschmelzung aller Völker der Sowjetunion zu einem Ethnos vorschwebte, 1940 zurück und drückte unionsweit das kyrillische Alphabet durch. Nur seinen Georgiern und den Nachbarn in Armenien erlaubte er, ihre mehrere tausend Jahre alten Modifizierungen von Keilschrift weiter zu benutzen. Auch die baltischen Republiken durften ihre lateinischen Alphabete behalten. Anders Moldawien, wo Rumänisch fortan mit kyrillischen Buchstaben geschrieben wurde. Bulgarische Mönche hatten sie vor rund tausend Jahren für die konsonantenreichen slawischen Sprachen konzipiert. Die lautlichen Besonderheiten romanischer und der vokalreichen türkischen Sprachen können sie daher nur unzureichend wiedergeben.

Die Turkvölker der Sowjetunion versuchten, das Problem mit Sonderzeichen zu lösen. Doch diese setzten, weil das kyrillische Alphabet Worte so darstellt, wie sie gesprochen werden, massive Lautverschiebungen in Gang. Mit verheerenden Folgen vor allem für das Kasachische, das schon nach der Unterwerfung durch das Zarenreich in die Schmuddelecke gedrängt und in der Stalin-Ära weiter marginalisiert wurde. Beamte, vom 2005 verabschiedeten Sprachengesetz dazu verdonnert, sich in den Medien nur noch in Kasachisch zu äußern, wischen sich vor und nach jedem Auftritt den Schweiß von der Stirn.

Mit der Rückkehr zum lateinischen Alphabet würden neue Lautverschiebungen drohen, fürchten Gegner der Reform. Sie und Befürworter halten sich Umfragen zufolge die Waage. Auch warnen sie vor Neo-Analphabetismus als Massenphänomen und berufen sich dabei auf Usbekistan. Einfache Menschen halten trotz der 1998 erfolgten Umstellung auf das lateinische Alphabet zäh an dem gewohnten kyrillischen fest.

Ähnliches droht in Kasachstan, vor allem im Norden, wo der Anteil ethnischer Russen an der Gesamtbevölkerung in einigen Regionen bei über 60 Prozent liegt.