Ekstase unter Schellenklingeln

»Danserye« in den Sophiensaelen ist ein Zwitterabend zwischen musik- und tanzhistorischer Forschung

  • Tom DeMeller
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein musikhistorisches Experiment leisten sich der Choreograf Sebastian Matthias und der Komponist Michael Wolters. Sie haben eine Serie von Volkstanzmusiken des Komponisten Thielmann Susato, der im Mittelalter vor allem in den Niederlanden und Schweden wirkte, ausgegraben und für ein vierköpfiges Musikerensemble arrangiert. Gitarre, Violine und verschiedene Blasinstrumente werden eingesetzt. Die Musik ist eingängig, recht simpel und erinnert an Hoftanzzeremonien. Sie muss aber auch, wie Wikipedias biografischer Eintrag zu Susato nahelegt, auf der Straße weit verbreitet gewesen sein. Zudem komponierte der Calvinist Susato auch Psalmenkompositionen - die einzige Musik, die die reformatorische Kirche seinerzeit anerkannte.

Die Raumkünstler Awst & Walther haben Matthias und Wolters einen Raum geschaffen, der mit wenigen Strichen sowohl eine sakrale Wirkung erzielt, als auch die Dynamik der kommenden Bewegungen antizipiert. Drei geschwungene weiße Leuchtstoffröhren markieren einen Kreis als Gravitationszentrum des Abends. An dessen äußeren Grenzen halten sich meist die Musiker auf. Sie durchschreiten ihn aber auch und erobern ebenfalls den Raum, der dahinter liegt. Dort tummelt sich meist das Publikum. Über kleine Schellen, die zu Beginn ausgegeben werden, nimmt es an der Klangerzeugung teil und kreiert so einen sehr simplen, aber auch sehr feinsinnigen Zusammenhalt. Bei jeder Bewegung mit Arm oder Fuß geraten die dort befestigten Schellen in Vibration und erzeugen ihren glockenhellen Klang.

Das Innere des Kreises ist vier Tänzern vorbehalten. Sie formieren sich dort zu Paarkonstellationen, zu Reigen und Linien. Das aus mittelalterlichen Aufzeichnungen bekannte Bewegungsmuster der erhobenen und abgewinkelten Arme, der steif aufgerichteten und nur durch das bewegliche Becken zuweilen abgeknickten Oberkörper wandelt Sebastian jedoch ab. Durch die Körper der Tänzer geht ein Zucken. Im Rumpf scheint jeder Muskel bewegt. Jedes Wirbelglied scheint seine Position zu verändern. Ausgestreckte Arme führen zu Schwergewichtsverlagerungen und bringen den gesamten Körper in Turbulenzen. Das Bewegungsbild, das entsteht, ist ein ekstatisches.

Möglich ist, dass der Choreograf hiermit auf seine eigenen Anfänge in »Tremor« verweist. Möglich ist auch, dass er an den ekstatischen Charakter mancher Gottesdienste reformatorischer Sekten - gewissermaßen als Fortführung des Tanzes in Kirchen - erinnern will. Vielleicht ist aber auch nur eine Postmodernisierung des alten Bewegungsmaterials sein Ziel. Dass dies nicht klar wird, ist ein Manko dieses insgesamt allerdings sehr interessanten Abends.

Ein zweiter Mangel liegt in einer konzeptionellen Unentschiedenheit. Die einfachen Harmonien laden zum spontanen Erlernen der Grundschritte ein. Die Raumgestaltung, die auf feste Sitzplätze verzichtet und dem Publikum freie Bewegung ermöglicht, animiert außerdem zum Mitmachen. Eigenes Tun ließe ohnehin die Virtuosität der professionellen Tänzer in noch größerem Glanze erscheinen. Sebastian beschränkt sich aber darauf, das bereits inspirierte Publikum wieder in die althergebrachte Betrachterposition zurückzuweisen. Dort wird es dann Zeuge eines Abends, dem es an dramaturgischer Grundspannung fehlt. Kurz kündigt der Klarinettist Jack McNeill die einzelnen Tänze an und erzeugt so die Anmutung einer akademischen Vorführung. Das damit geweckte Interesse an den Tänzen selbst stillt er jedoch nicht. Ebenso wenig wird die inszenierte Abweichung und Weiterentwicklung der Bewegungen thematisiert. Das Muster der puren Abfolge der Tänze ist zu wenig raffiniert.

»Danserye« ist ein Zwitterabend zwischen musik- und tanzhistorischer Forschung, Gruppenexperiment und zeitgenössischer Choreografie. Diese drei Elemente müssten nur noch stärker geschärft und in bessere Balance zueinander gebracht werden. Dann könnte aus dieser Arbeit etwas ganz Bemerkenswertes werden.

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