Der »Mann mit den zwei Augen« heißt er im Roman. Ein dicker 56-Jähriger, von Beruf Gerichtsreporter. Er hat einen »sparsamen Gesichtsausdruck« und eine nicht besonders einprägsame Erscheinung, die folglich schnell wieder vergessen werden könnte. Von einem rundum mittelmäßigen, unauffälligen Alltagsmenschen ist also die Rede. Erst stirbt die Katze. Und als er das seiner im Sanatorium weilenden Frau mitteilen will, auch noch die Frau. Durch Suizid.
Verzweifeln? Nein, er begibt sich, wie ihm schon einmal zuvor die Frau geraten hat, in eine Kleinstadt, um dort seinem Leben auf die Spur zu kommen. Der Flaneur und Streuner begegnet Huren und Bardamen, lässt sich von einem Klempner mit mäßigem Erfolg in die Freuden homosexueller Praktiken einführen. Ab und an wird er an frühere Zeiten erinnert, an die wenigen Freunde und Bekannten, schließlich die Zeit mit seiner Lebensgefährtin, die er vor Jahrzehnten in einem Chor kennenlernte.
Angesichts der Geringschätzung seiner selbst wundert es nicht, dass er von misanthropischen Anfällen heimgesucht wird. Einmal beobachtet er fasziniert einen Libyer, der einen Koran-Satz zu Protokoll gibt: »Es stehe geschrieben: Wenn das, was du zu sagen hast, nicht schöner klingt als die Stille, dann schweig.« Daraufhin beschließt auch er, diesen Vorsatz zu beherzigen. »Er fuhr nach Hause und brachte es von jenem Tag an kaum noch über sich, mehr als zwei, drei Sätze zu sagen. Er schaute um sich, hörte um sich und wurde stiller und stiller. Nach einigen Wochen sagte er nur noch ja, ja und nein, nein. Da die Frau, die mit ihm zusammen in der Wohnung lebte, ebenfalls lieber schwieg als redete, kehrte in vier Wänden himmlische Ruhe ein.«
Diese eigene Zurückgenommenheit erlaubt dem »Mann mit den zwei Augen« mehr und anderes wahrzunehmen als Menschen, die mit beiden Augen, also stereometrisch sehen. Er sieht mal hierhin mit dem rechten, dann dahin mit dem linken Auge, metaphorisch gesprochen. Er betrachtet Alltäglich-Banales, Kleinigkeiten, die oftmals unterhalb der normalen Wahrnehmungsschwelle liegen und dabei - das ist Zschokkes Meisterschaft im Erzählen - groteske, absurde und bizarre, ja auch komische Züge zeigen, wenngleich dieses Komische nicht gerade zum Lachen oder Lächeln animiert. Im Gegenteil.
Zschokke demonstriert eine skeptisch-pessimistische Lebenshaltung, die bei seinem »Helden« am Ende nur deshalb nicht zur kurzfristig erwogenen Selbstentleibung führt, weil dieser in der Bardame Rosaura, mit der er sich mangels anderer Alternativen zusammentut, nicht nur eine Gleichgesinnte erkennt, sondern durch sie veranlasst wird, in den Spiegel zu schauen. »Bemühen Sie sich stets«, ruft Rosaura ihm zu, »sich selbst wichtig zu bleiben. Sie wollen zwar nichts dazulernen, nichts erfahren, nichts werden. Sie würden sich am liebsten im Nichts auflösen. Sie sind da und sind vollkommen überflüssig. Doch verraten Sie das niemandem.«
Matthias Zschokke: Der Mann mit den zwei Augen. Roman. Göttingen, Wallstein. 244 S., geb., 19,90 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/811453.vom-schweigen-als-ideal.html