Einst Makel, nun Mode

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Am unvoreingenommensten sind Kinder. »Im ›Park Center‹ Treptow, wo die Tür zum Geschäft immer offen stand, hatten wir ständig Kinder im Laden. Brillen zogen sie an.« Falko Matthes (36), verheiratet und Vater einer Tochter, ist Augenoptikermeister und heute bei einem großen Brillenanbieter in Berlin-Friedrichshagen am Müggelsee tätig. Die Anziehungskraft geschliffener Gläser auf Kinder beobachtet der in gebürtige Frankfurter an der Oder Gebürtige auch hier. »Höhepunkt ist, wenn Mama der Tochter eine Fassung aussucht - und das Brüderchen jammert, weil es keine Brille bekommt …«

Matthes ist seit vier Jahren Meister. Er hat in Hamburg und Braunschweig gearbeitet, bevor er in Berlin landete. Die Branche erlebte in den vergangenen Jahrzehnten große Veränderung. Sie bereitet den Beschäftigten nicht nur Freude. Den Kunden dagegen eröffnete sie neue Auswahl und eine vielfach neue Haltung zur Brille. Beides spürt der Meister: Im Optiker, der früher im weißen Kittel ein Renommee wie der Apotheker am Platz hatte, sehen viele Kunden heute »eine Art Supermarkt für Brillen«, wo sie schachern und Beratungsleistungen in Anspruch nehmen, ehe sie sich - Tendenz steigend - für eine Brille im Internet entschließen. Mit der gehen sie, das erfährt Matthes auch, oft wieder zum Augenoptiker, weil das neue Stück aus dem Netz auf der Nase wackelt, hinterm Ohr zwickt und überhaupt dem, was man sich vorgestellt hatte, nur entfernt nahekommt.

Die Veränderung für den Kunden ist dagegen erfreulich: Aus der Sehhilfe ist ein Alltagsgegenstand geworden, der nicht länger getragen werden muss, sondern getragen werden darf. Für viele ist die Brille nicht länger ein Makel, sondern ein Accessoire, mit dem sie ihre Persönlichkeit akzentuieren, manchmal sogar aufzuwerten hoffen - das Nasenfahrrad nicht mehr als Zielscheibe für Hänselei, manchmal eher ein Ferrari, mit dem man auf die gefühlte Überholspur fährt. Der Wechsel von starrer Fertigung mit Glas in wenig ansehnlichen Fassungen hin zu Gleitsichtgläsern in leichten und stabilen, flexiblen und hautneutralen Rahmen oder freischwebender Randlosigkeit, vor allem der Wandel vom reinen Nutz- zum wandelbaren Designobjekt, haben das ermöglicht. Dass man im Einzelfall damit mehr scheinen als sein kann, passt in die Zeit und führt auch schon mal Kunden zu Matthes, deren Augen noch gar keiner tätigen Beihilfe bedürfen: »Kein Einzelfall. Ich erinnere mich an den Versicherungskaufmann, der 1A-Augen hatte und trotzdem eine Brille wollte. Mein Chef, sagte er, findet mich zu jungenhaft und forderte mich auf: ›Geh und besorg dir eine Brille, da wirkst du seriöser ...‹«

Die Brille, wie wir sie heute kennen, ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Zwar bediente man sich bereits um 1300 geschliffener Linsen aus Beryll, einem Silikat, das der Brille im Deutschen ihren Namen gab. Doch die ersten Brillen waren bügellos und im Mittelalter Kuriositäten, wenigen gebildeten Männern, meist der Kirche, vorbehalten. Zwar soll 1727 ein englischer Optiker die erste Brille mit Ohrenbügeln vorgestellt haben. Aber bis ins 20. Jahrhundert blieben Monokel und Zwicker beliebte Alternativen, die Brille weiter ein Zubehör des gebildeten und - nicht zuletzt - wohlhabenden »Ehrenmanns«. Vor allem mit Beginn der automatisierten Fassungsfertigung (seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts), mit dem Nylonfaden, der die Gläser rundum halten konnte, und mit dem hitzefesten, formstabilen und gut färbbaren Kunststoff Acetat (ebenfalls ab 60er Jahre) verstärkte sich die Differenzierung in Damen- und Herrenbrille, setzte allgemein ihr Wandel zum Design- und damit zu einem modischen Gegenstand ein.

Zuletzt fand ein Stilwechsel statt. Falko Matthes: »Längere Zeit waren randlose, dezente, fast ›unsichtbare‹ Brillen begehrt. Das ist weithin passé und hat markanten Brillen mit oft dunklen Rahmen oder Bügeln Platz gemacht, auch bei Politikern gut zu besichtigen - etwa bei CSU-Generalsekretär Dobrindt, Außenminister Westerwelle oder dem gefallenen Präsidenten Wulff. Verglichen mit denen ist Tagesschau-Sprecher Jan Hofer die lebende Konstanz: Er trägt seit eh Gläser mit markantem Rahmen.«

Der Optiker registriert aber auch bei Menschen wie du und ich gewachsene Offenheit, wenn es um eine neue Brille geht. »Viele Kunden kommen anfangs mit ziemlich fester Vorstellung zu uns, orientiert oft an ihrer bisherigen Brille. Das breiter gewordene Angebot lässt sie dann mutiger werden und spontan sagen: ›Ja, warum sollte ich eigentlich nicht mal so was probieren?‹« Das freut auch Matthes.

Unerfreulicher sind nach seiner Erfahrung zwei andere Umstände: »Bei Neugeborenen ist ein Hörtest vorgeschrieben, während der erste Sehtest beim Augenarzt erst zur Einschulung ansteht. Das halte ich für eine änderungswürdige Lücke, weil so Sehschwächen früher erkannt und behandelt werden könnten. Auf anderer Ebene merke ich, dass Personen, die noch nie eine Brille hatten, oft zu lange warten. Etwa 70 Prozent derer, die erstmals bei uns sind, kommen mit einer falschen Selbstwahrnehmung. Typisch: Jemand meint, er brauche eine Lesebrille, obwohl der Sehtest zeigt, dass er auch in der Ferne korrekturbedürftig ist.« Der Sieg der Neugier über die Eitelkeit, der gewöhnlich den Entscheid zur ersten Brille begleitet, wird mitunter schwer errungen

Nicht sparen soll man, so Matthes, an den Faktoren Entspiegelung und Tragekomfort. Kunststoffgläser, die »heute 95 Prozent aller Verkäufe ausmachen«, seien im Normalfall »geeigneter, weil komfortabler«. Aber im Hinblick auf Gläser wie Fassung ist der geduldige und kompetente Berater davon überzeugt, »dass in einem Land, in dem zwei Drittel aller Bewohner Brillenträger sind, eine gute Brille nicht teuer sein muss«.


Tipps von Matthes

● Viele reinigen ihre Brillen trocken und putzen sie so kaputt. Beim Auto kommt auch keiner auf die Idee, verschmutzten Lack trocken zu polieren. Richtig: Gläser kalt oder lauwarm - nicht heiß! - spülen, Spülmittel auftragen, klar spülen, mit Geschirrtuch trocknen und mit Mikrofasertuch streifenfrei polieren. Alternativ: Einmal die Woche beim Optiker im Ultraschallbad pflegen lassen - das ist kostenlos und keine Belästigung.

● Viele schlafen mit ihrer Brille ein und beschädigen sie dabei. Nicht einschlafen!

● Eine Brillenversicherung empfehle ich nicht generell, aber für Kinder und Personen in gefährlichen Berufen (Maurer, Maler, Dachdecker) durchaus.

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