»Ostseppl« in Oxford

TV-Tipp - am Dienstag im rbb: Film über Bärbel Bohley

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Werner Fischer spricht von der Schwierigkeit, als »Ostseppl mit Schleier vor den Augen« endlich auch mal Momente zu genießen, in denen der Druck der Situation abfällt. Bärbel Bohley: »Unsere Situation zerstört alle Gefühle.« Punkt.

Die Situation: Nach der Transparent-Provokation bei der Liebknecht-Luxemburg-Gedenkkundgebung im Januar 1988 (»Freiheit ist immer nur die Freiheit des Andersdenkenden«) wird die Bürgerrechtlerin für ein halbes Jahr über die BRD nach London abgeschoben, gemeinsam mit Werner Fischer, ihrem Ex-Lebensgefährten. Der Film »Der Rauswurf. Bärbel Bohley - Tagebuch einer Unbequemen« von Gabriele Denecke (Kamera: Thomas Zahn) schildert Verhaftung, Verschiebung, Verlassenheit.

Der Film hat Sinn für eine raue wie romantische Musikalität, er montiert in melancholischer Getragenheit - wie ein flehend lebenssüchtiges Lied - bohleybiografisches Foto- und Filmmaterial mit geografischer Szenerie des aufgezwungenen Exils. »Opposition zu sein und ein Grundstück zu haben«, sagt Werner Fischer über den einstigen Treffpunkt bei Robert Havemann in Grünheide bei Berlin, »das hatte schon was.« Und als Fischer und Bohley zur Grenze gefahren werden, steigt unterwegs Bohleys Sohn Anselm (16) zu, mit Kinderrucksack; ein Stasimann schleppt einen riesigen Zeichenblock - »dass Anselm daran gedacht hat«, schreibt die Malerin später gerührt. In Bonn werden sie die Bundestagsfraktion der Grünen besuchen, die meisten gehen raus und rauchen, eine Freundin Bohleys wird vom Fraktionschef angeraunzt: »Birgit, du solltest dich mehr um Ökologie kümmern als um diese Scheiß-DDR-Opposition.« Und Lafontaine, dem »kleinen Napoleon« von der SPD-Fraktion, habe man im Gespräch ständig das Kalkulierende angesehen: Wo nützt mir diese Begegnung, wo muss ich im Hinblick auf die DDR-Führung vorsichtig sein?

Bärbel Bohley plötzlich im Westen. Sie steht überwältigt vorm Isenheimer Altar, immer schon eine ihrer großen Seh-Sehnsüchte, aber »jetzt bin ich fast blind«. Ihr gelingt »drüben« kein Rückzug, sie lehnt ab, sich zu »verhalten«, sie will entgegen aller Diplomatie laute Öffentlichkeit über die Schandpraxis des SED-Staates. Sie gerät in Rage, wenn sie einsehen soll, es gehe um »gute Beziehungen« zum Honecker-Staat - nein, es geht um ganz konkrete Menschen, um Menschenrechte. Dazu das DDR-Fernsehen: In der DDR seien die Bürgerrechte »in sicheren Händen«, aber die da, die Bohleys und Co., das seien »Rechtsbrecher«. Zusammenrottung, Mob, Zersetzungsmaßnahmen, Staatsfeinde, Geheimdienstbüttel, Lumpen - das treibende mediale Vokabular.

Bohley sehnt sich nach ihrem zerfallenden Hinterhaus-Berlin, sie leidet an der sauberen »leeren Freundlichkeit« der westdeutschen Reihenhauswelt, »wenn einem das hier gefällt, dann ist man verloren«. Wo sie auf westliche Lebensfreude trifft, da argwöhnt sie sofort Deformation durch Warenterror - also: Wer nicht wie sie selber denkt, verdrängt ihrer Ansicht nach die wirklichen Probleme. Die Unbedingte, die Apodiktische. Identifikationsgestalt und Spaltende zugleich. Naiv und nervend. Beim Hohen Empfang in Oxford irritiert sie einen tablettbewehrten Kellner, indem sie ihm die Hand zum Gruß entgegenstreckt. Der Lakai als Mensch? Verdutztheit ringsum.

Bärbel Bohley wird im Herbst 1989 das Gesicht der Opposition werden - und ist »dann entbehrlich«. Zu kompromisslos. Zu wenig konsumistisch. Zu rigoros und zu anstrengend. Zu utopiebegehrlich. Zu schwerfällig für alles Geschmeidige. Zu wenig fähig für das »Ausgeklügelte«. Eine Taktikbehinderte. Sie verfügt über kein Organ zur Verklärung menschlicher Mangelhaftigkeit. Ihr auffällig helles Lachen täuscht über ihre strenge Ernsthaftigkeit hinweg. Sie hätte enorm für das wahre Geschäft der Politik getaugt, denn sie war untauglich für das Herrschende: die Politik jedweden Geschäfts. Die SED fürchtete ihresgleichen, weil sie den Sozialismus nicht beseitigen wollte, sondern ihn wollte. Nicht einen anderen Sozialismus, sondern überhaupt erst mal: Sozialismus. Daher dieses tolle Paradoxon: Dass ein Regime Menschen rauswirft, diese aber auf Rückkehr bestehen.

Anfang August 1988 war es soweit. Heimkehr. Noch kurz vorher sitzt man im Londoner Pub, Werner Fischer stößt Bohley an, da drüben an der Theke: ein »Stasiterrier«. Quatsch, hier doch nicht. Da geht der Mann raus, sagt; »Schön' Abend noch!« Jetzt steigt die Angst: Die torpedieren die Wiedereinreise! In Fischers Wohnung ist plötzlich eine Uhr eine Stunde vorgestellt - er soll merken, dass da Bespitzelung stattfindet. Beim Flug dann, so Fischer lachend, wurde die Wolkendecke gen Osten immer dichter - die Angst fantasiert gespenstisch. Bohley sagt, sie wäre bei Einreiseverweigerung mit der Leiter über die Mauer geklettert! Aber sie reisen ein. Sofort wieder DDR-Alltag: das tumb-verächtliche MfS-Schrifttum - »›Bohle‹ beim Entleeren der Mülltonne« (plus Foto). Der Bericht über jede Nichtigkeit: die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Werktätige im Zersetzungsindustriezweig. Es war kein grüner Zweig, man saß drauf und sägte.

Schönster Moment des Films: Treffen im Westen mit Roland Jahn, heute Chef der Stasiunterlagen-Behörde, damals Jesuslatschen und lange Haare. Sie fahren nach Italien. Das Malerlicht: Bohley erstmals beseelt, besonnt, aber erstmals auch mit dem Schuldgefühl der DDR-Bürgerin: »Der Riss im Kopf. Ich erlebe was, was mir nicht zusteht.« Die Filmbilder zaubern mit Licht und Schatten. In Venedig dann, im Gewitterregen, das Empfinden wie Thomas Manns Aschenbach, wenn »der Tod beginnt«; Augengier bis zur Erschöpfung, wie in Rom, da trug Jahn die im besten, im neugierigsten Sinne lebens-müde gewordene Bohley auf Schultern durch die nächtliche Stadt, »und das wunderbare Gefühl: So gehen wir jetzt durch die ganze Welt.« Und der bohrende Drang, alle Verhältnisse zu brechen, die einsperren, einengen, bevormunden. Rom, Venedig wie Gleichnisse: Mitunter wird uns nur im Augenblick einschneidender Vorgänge die entsetzliche Gewöhnung bewusst.

Es ist ein Film über eine Aktivistin der ersten Mut-Stunde am Abgrund des Regimes. Da es noch einen existenziellen Preis hatte, für das bessere Land zu sein. Und nur wenige erkenntlich zum Zahlen bereit waren. Als Bohley von der Stasi in Berlin festgenommen worden war, sehr früh am Morgen, da schrie sie durchs Haus, »ich hatte das Gefühl, alle hören zu«, aber keiner öffnet eine Tür. Wie sagte Günter Gaus immer? »Der alte Adam und die alte Eva« - der gewöhnliche, vorsichtige, abwartende Mensch außerhalb des Paradieses.

Eine Szene des Films zeigt - schmerzhaft dies, nach wie vor - eine Reihe Menschen mit Kerzen in den Händen. Ein Friedenszeichen, als in der DDR der Wehrdienst auch für Frauen eingeführt wurde. Volkspolizei schiebt, stößt, prügelt, zerrt, treibt auseinander. Lkw-Bestückungsmentalität. Bohley inmitten. Böse Assoziationen. In einer Rede für Franz Fühmann beschwor Christa Wolf einmal die Notwendigkeit des »erheblichen Nachteils«, der nämlich gehöre zum Nachweis einer wirklich tief gehenden kritischen Haltung zu einem bedrängenden System - denn in Nischen, was immer man da an leiser Verweigerung betreibt, wächst nicht wirklich ein Charakter, der sich später auf etwas berufen kann. Wahrheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit - Worte, bei denen man schnell zu zittern beginnt, weil sie immer wieder zu Synonymen für Verfolgung, Erniedrigung, Schmerz werden.

So gerät die filmische Begegnung mit Bärbel Bohley zum Blick in den eigenen Spiegel: Man hat den Klassenkampf gewinnen wollen und war plötzlich froh, ihn überstanden zu haben. Aber wer den Revolutionsweg ans Ende der DDR unbeschadet überstand, ist nicht dessen Held gewesen. Bärbel Bohley lacht aufreizend hell und stirbt, im September 2010.

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