Die Russen und wir

Zur Halbzeit einige Fragen zum »Russlandjahr in Deutschland«

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 6 Min.

Die älteren Semester haben gewiss noch eine Erinnerung an einen Paukenschlag am Vorabend der Gründung beider deutscher Staaten. Rudolf Herrnstadt publizierte am 2. Juli 1949 in dieser Zeitung einen Text, der schon mit dem Titel überraschte: »Über ›die Russen‹ und über uns«. Obwohl der schlesisch-jüdische Publizist und SED-Funktionär zu dem Zeitpunkt noch Chefredakteur der 1945 von ihm gegründeten »Berliner Zeitung« war, füllte sein Artikel an jenem Tag eine ganze Seite in dem von ihm dann 1949 bis 1953 geleiteten »Neuen Deutschland«. Herrnstadt griff auf ein Referat zurück, das er - seit seinem Exil in Moskau und Tätigkeit im Nationalkomitee Freies Deutschland mit der »russischen Seele« bestens vertrauter Kommunist - am 1948 auf der 2. Jahrestagung der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion gehalten hatte (der späteren Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, DSF).

Bemerkenswert sind die erfrischenden Antworten, die der geübte Rhetoriker auf vier damals brisante Fragen gibt. Er packt das seinerzeit - im unter alliierter Besatzungskontrolle stehenden Deutschland - heiße Eisen des »Rechtes der freien Rede« an. Dann ironisiert er die Angst vor der Besatzungsmacht aus dem Osten, vor von dort drohendem Krieg als »Russenpsychose«. Unverblümt kommt er auf den von ihm im beiderseitigen Interesse für möglich gehaltenen Abzug aller Besatzungstruppen zu sprechen. Und am Ende nimmt er schließlich explizit die aus der Sozialdemokratie gekommenen SED-Genossen gegenüber der Herrschsucht seiner kommunistischen Genossen in Schutz. Hierfür ruft er sogar die sowjetische Generalität als Zeugen an. Vier wunde Punkte, die reichlich Stoff zur Auseinandersetzung boten. Nach dem 17. Juni 1953 sollte Herrnstadt über solch undogmatisches Denken stolpern.

Sieben Jahrzehnte nach der Schlacht um Stalingrad, der Anfang vom Ende deutsch-faschistischen Eroberungs- und Vernichtungswahns, steht die Frage wieder: Wie stehen wir zu den Russen? Legt man den Fragekatalog Herrnstadts zu Grunde, so ist erstens zu bejahen: Freie Rede ist garantiert. Und zwar bis zum Überdruss. Deutsche Politiker gefallen sich darin, Belehrungen an die Adresse Moskaus abzugeben, ganz ungeniert Menschenrechte im weiten Russland einzuklagen, statt sich zuvörderst um die Einhaltung der UNO-Menschenrechtskonvention im eigenen Land zu kümmern, um das Recht auf Arbeit, auf bezahlbaren Wohnraum, Bildung für alle und eine Kindheit frei von Armut und Hartz-IV.

Zweitens: Kriegsangst? Die tangiert heutige Deutsche nicht oder nur minimal. Kriege werden weitab geführt, in fernen Ländern. Betroffen sind »nur« die Angehörigen der in Auslandseinsätze geschickten Bundeswehrsoldaten. Deutschland darf und will wieder Krieg spielen. Einen kollektiven Aufschrei erzeugt dies nicht.

Drittens: Besatzungstruppen? Die alliierten Streitkräfte sind von deutschem Boden Anfang der 90er Jahre abgezogen, bis auf einige Einheiten der US-Army. Dass deren Stützpunkte in der Bundesrepublik illegalen Machenschaften im »Krieg gegen den Terrorismus« dienen - wen schert's?

Viertens: Die Sozialdemokraten gelten als Opfer einer »Zwangsvereinigung« 1946 in der sowjetischen Besatzungszone. Als Zeuge dafür wird auch mal ein russischer General angerufen. In den meinungsführenden Medien kein Wort darüber, dass Zehntausende von Sozialdemokraten als Lehre des 30. Januar 1933 Arbeitereinheit schworen, freiwillig und bewusst sich mit den Kommunisten zur SED vereinten. So weit, so problematisch. Aber wie stehen wir nun zu »den Russen« heute?

Da ist erst mal zu fragen, was das Wörtchen »wir« meint? Wer in der DDR sozialisiert wurde, hat mit und neben der russischen Sprache russische Mentalität sowie Geschicke und Geschichte kennengelernt. Weder geduckt, noch geknechtet, noch »russifiziert« waren jene Bürger der DDR, die sich mit dem Land und den Leuten verbunden fühlten, denen auch die Deutschen 1945 ihre Befreiung verdankten. Und doch wird deren aufrichtiges Gefühl, deren ernst gemeinte Freundschaft bei jeder unpassenden Gelegenheit beschmutzt und denunziert. Manche meinen gar, Ostdeutsche hätten dauerhaften Schaden in all den Jahren unter »den Russen« davongetragen. Sie haben keine Ahnung davon, wie persönliche Begegnungen und Bekanntschaften, die vielfältigen literarischen und filmischen Erlebnissen dank »der Russen« geistige Horizonte erweiterten und bildeten. Sie halfen, fürchterlichen Krieg und karge Nachkriegsjahre zu verarbeiten und primitive »Russenphobie« zu überwinden. Ostdeutschen waren und sind (zumindest den älteren) »die Russen« nicht mehr fremd.

In Westdeutschland hingegen konservierten Westintegration, Antikommunismus und Kalter Krieg Angstvisionen und »Russenphobie«. Der Kalte Krieg ist vorbei, heißt es. Alles gut?

»Menschen - Jahre - Leben« betrachtete einst kritisch-rückblickend der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg. Wer tut das heute? Es überwiegen in der Geschichtsvermittlung verbale Stanzen und Feindbilder oder zumindest Misstrauen aus der Zeit des Kalten Krieges. Vom gemeinhin grassierenden »Aufarbeitungseifer« ist in diesem Bezug nichts zu spüren. Eine nennenswerte Kulturszene, die Bücher, Filme, Theaterstücke oder neue Kunstwerke aus Russland präsentiert und reflektiert, gibt es in der Bundesrepublik nicht. Es gilt immer noch, was der Osteuropa-Experte Karl Schlögel schon 1986 in seinem Buch »Die Mitte liegt ostwärts« erkannte: »Am Ostblock interessiert nur, was zum Drama oder zur Sensation wird. Danach fällt der Raum, der für einen Augenblick wie von einem Blitzlicht ausgeleuchtet wird, wieder ins Dunkel zurück.«

Durch deutsche Medien geistern »arme«, vom Autokraten Putin verfolgte millionenschwere Oligarchen. Der Alltag des russischen Volkes interessiert nicht. Munter wird die Zarenherrschaft idealisiert, deren letzte Protagonisten ein »blutrünstiger« Lenin 1918 ermorden ließ. Russland erscheint im deutschen Blätterwald nur, wenn die dortige radikale Opposition spektakuläre Aktionen unternimmt wie der dreiminütige justiziable Auftritt dreier junger Damen namens »Pussy Riot«.

Das für 2012/13 ausgerufene »Russlandjahr in Deutschland«, zu dem es das Pendant »Deutschlandjahr in Russland« gibt, hat seine Halbzeit überschritten. Dresden zeigt »Schätze des Kreml«. Das ist schön. Politische Tretminen sind da nicht zu befürchten. Erstaunlich war, wie solche in der großen Ausstellung in Berlin »Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte, Kultur«, die vor Kurzem ihre Pforten schloss, umgangen wurden. Da erfuhr man beispielsweise, dass der deutsche Kaiser Wilhelm am 31. Juli 1914, am Tag vor Beginn des Ersten Weltkrieges, seinem russischen Vetter Zar Nikolai die flehentliche Bitte sandte, nicht an der Seite der Entente gegen Deutschland anzutreten. Der am 22. Juni 1941 begonnene deutsche Ausrottungsfeldzug auf russischer Erde fand sich weder in Texten noch Dokumenten oder gegenständlichen Exponaten wider. Vier überdimensionierte, idyllische Landschaftsfotos, die nicht ahnen ließen, dass es sich hier um einst blutige Schlachtfelder handelt, ist alles, was den Kuratoren zum Thema »Die Russen und wir« in den Jahren 1941 bis 1945 einfiel. Mehr als mager. Das ambivalente, zweigeteilte Nachkriegsverhältnis der Russen und Deutschen wurde hier gleichwohl nicht diskutiert. Man begnügte sich damit, in Endlosschleife filmische Berichte über Kriegsheimkehrer und Staatsbesuche abzuspulen. Eine Chance ist vertan worden.

Was wird die zweite Halbzeit bieten? Nur Konzerte und Ballett? Dann bleibt sie weiterhin offen - die »Russische Frage«. So hieß übrigens ein Theaterstück von Konstantin Simonow. Doch wer kennt ihn heute noch hierzulande?

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