Durchgeknallt, aber am Leben

Flattersatz

  • Lesedauer: 3 Min.

Die Professoren Sauberbruch, Semmelweis (»Retter der Mütter«), Robert Koch und der Dopingarzt Fuentes - das waren/sind Genies, die der Menschheit im Gedächtnis bleiben. Jetzt könnte Michael Linden, 64, Psychiater, hinzukommen. Der »Spiegel« stellte ihn und sein spannungsvolles Dasein entlang des Eisernen Vorhangs so vor: »Er hat in West-Berlin studiert, wo er bis heute wohnt. Jeden Tag pendelt er nach Teltow in die ehemalige DDR, jenen untergegangenen Staat, dem er seine interessantesten Fälle verdankt.«

Denn wenn es den nicht gegeben hätte, wäre er der diagnostizierten Irren Gabriele Müller nie begegnet. Ihren Namen hat der »Spiegel« fürsorglich geändert (sollte sich jedoch herausstellen, dass sie nicht nur verrückt, sondern auch IM ist, wird er sie schon noch enttarnen).

»Müller« ist ja bekanntlich gar kein Name, sondern eine Sammelbezeichnung. Nun auch noch die für eine schicke neue Geisteskrankheit, wie sie nirgendwo anders auf der Welt, nur in der Zone verbreitet ist. »Posttraumatische Verbitterungsstörung« wurde sie genannt, und Psychiater Linden hat sie erstmals wissenschaftlich beschrieben.

Zahlreiche mit dieser Meise ausgestattete Exemplare sind bereits auf Lindens Couch im Reha-Centrum Teltow gelandet. Aber zehntausende Ossis laufen damit noch frei herum. Man erkennt sie an grauer Haut, gesenktem Blick, Wahlverweigerung und daran, sich von überlagerten Ostprodukten zu ernähren. Wenn sie überhaupt noch essen. Im Volksmund nennt man sie »Erichs letztes Aufgebot«, und es gibt davon im Osten bald mehr als Demenzkranke. Deshalb titelte der »Spiegel« völlig richtig: »Wahnsinn wird normal«.

Bei Frau Müller hat es folgendermaßen angefangen: Als die »friedliche Revolution« in Gestalt der Herren Wolfgang Schnur, Ibrahim Böhme und Lothar de Maizière pöbelnd unter ihrem Balkon vorüberzog, dachte sie schon mit einem gewissen Angstgefühl in den Knien »Wahnsinn!«. Und im Wahnsinn sollte sie auch enden. Die Wende war das Trauma, und »posttraumatisch« heißt die Krankheit, weil sie vom Betrieb per Post gleich den Entlassungsbrief erhielt. Von da an wurde sie fast ein viertel Jahrhundert lang herumgeschubbst, geschuriegelt, gedemütigt, angebrüllt, verdächtigt und verarscht: Bewerbungstraining, Umschulung, Ein-Euro-Job, »Ehrenamt«, Arbeitslosigkeit, Bewerbungstraining, Umschulung, Hartz IV … Irgendwann war der Tag gekommen, da »die pflichtgetreue Gabriele Müller, 58, morgens einfach liegen blieb«.

Alles haben die Ärzte probiert! Die Müller galt als depressiv, neurotisch, schizophren, betrunken, legasthenisch, angstgestört, gemeingefährlich, suizidgefährdet und vom Zappelphilipp-Syndrom befallen. Sie wurde gebadet, bestrahlt, massiert, geimpft und zum Trommeln nach Uganda geschickt. Schließlich war klar, dass sie entweder eine Simulantin oder etwas Besonderes ist.

Die »posttraumatische Verbitterungsstörung« - inzwischen als eigenständige Krankheit anerkannt - ist natürlich keine Störung der Verbitterung (die funktioniert ja bei der Müller prima), sondern die Störung der Fähigkeit, sich den Kapitalismus schön zu gucken. Inzwischen sitzen diese Patienten in Gruppen zusammen und versichern einander: »Es ist nicht alles schlecht.« Manchmal kommt auch einer von der LINKEN vorbei, der sie dabei unterstützt.

Linden allerdings hält das Leiden für unheilbar, ja tödlich. »Nur die Wiederholung einer Ausgabe von ›Ein Kessel Buntes‹«, hat er festgestellt, »verschafft den Unglücklichen ein wenig Linderung.«

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