»In Venezuela müsste Chávez um seine Gesundheit fürchten«

Der Schweizer Onkologe Franco Cavalli über den Fall des Präsidenten aus medizinischer und medialer Sicht

  • Lesedauer: 4 Min.
Der weltweit renommierte Schweizer Onkologe Franco Cavalli ist Koordinator für die internationalen Projekte der Internationalen Vereinigung gegen den Krebs (UICC), deren Präsident er mehrere Jahre lang war. Seit 2003 ist er zudem wissenschaftlicher Direktor des Onkologischen Instituts der italienischsprachigen Schweiz (IOSI) in Bellinzona. Cavalli engagiert sich seit Jahren für humanitäre Projekte in Lateinamerika. Mit Cavalli sprach für »nd« Harald Neuber.

nd: Herr Cavalli, die Krebserkrankung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ist nicht nur in dem südamerikanischen Land ein Politikum. Erstaunt Sie das?
Cavalli: Nein, denn das ist Ausdruck der Schlüsselrolle, die Präsident Chávez und die Bolivarianische Revolution zurzeit in Lateinamerika innehaben. Erstens hat Präsident Chávez am meisten für eine vereinigte Gemeinschaft aller lateinamerikanischen Staaten getan. Zweitens wäre es ohne ihn nicht vorstellbar, dass in einem beträchtlichen Teil dieser Länder progressive Kräfte an den Regierungen sind. Wichtig ist vor allem aber der dritte Grund: die sehr enge wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen Venezuela und Kuba.

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Mehr noch: Ohne diese Zusammenarbeit wäre Kuba der jetzige Reformprozess kaum möglich gewesen. Im Gegenzug hätte Chávez ohne die gut 20 000 kubanischen Ärzte und Krankenschwestern, die sehr viel für seine Popularität getan haben, wohl kaum fast alle Wahlen und Abstimmungen gewonnen.

Sein deutlicher Wahlsieg im vergangenen Oktober hat das nationale und internationale Bürgertum sehr deprimiert. Die Opposition weiß genau, dass sechs weitere Amtsjahre von Chávez wohl endgültig die Festigung des Befreiungsprozesses in Lateinamerika bedeuten würden. In der Tat war die allgemeine Auffassung in diesen Kreisen, dass ihnen nun »nur noch der Krebs helfen kann«.

Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang den Umgang mit medizinischen Informationen über den Patienten?
Von Anfang an haben internationale und imperialistische Akteure wegen der Krebserkrankung Hugo Chávez große Hoffnung geschöpft. Das erklärt, warum die venezolanische Regierung und Chávez selbst die Öffentlichkeit nicht über alle Details informiert haben. Das Wesentliche wurde aber immer mitgeteilt. Und dazu gibt es auch noch eine Privatsphäre, die in solchen Fällen gewahrt bleiben sollte.

Sehen Sie Unterschiede im medizinethischen Umgang mit dem Thema in Lateinamerika und Europa?
Medizinethische Unterschiede im Umgang mit Krankheiten, auch bezüglich der Informationspflicht, gibt es ja selbst zwischen Süd- und Nordeuropa. Vergessen wir nicht, dass die Franzosen zum Beispiel über die Krebserkrankung ihrer Präsidenten Georges Pompidou und François Mitterrand erst nach deren Ableben erfahren haben. Dennoch beschweren sich nun auch französische Medien darüber, dass die venezolanische Regierung angeblich zu wenig über die Erkrankung von Hugo Chávez informiert.

Und was sagen Sie zur hiesigen Berichterstattung?
Die Mainstream-Medien in Europa haben die Popularität von Hugo Chávez nie verstehen wollen oder als Propaganda abgetan. Als nach dem letzten Wahlsieg von Chávez die Nachricht über einen Rückfall der Krebserkrankung kam, konnten viele Medien eine gewisse Schadenfreude nicht verheimlichen. Die Berichterstattung wurde immer unerträglicher. Man erwartete offenbar nur noch die »erlösende Nachricht«.

Sind Ferndiagnosen, wie sie etwa aus Miami in den USA bekannt wurden, denn verlässlich?
Ich habe selten so viele Dummheiten gelesen. In einem so komplizierten Gebiet wie der Onkologie sind Ferndiagnosen ohne Kenntnis der wesentlichen Fakten einfach Hokuspokus.

Oft wird die Frage aufgeworfen, weshalb sich Präsident Chávez in Kuba und nicht in Venezuela behandeln lässt. Haben Sie eine Antwort?
An seiner Stelle hätte ich mich auch nicht in Venezuela behandeln lassen. Die offizielle Medizin in Venezuela ist sehr korrupt. Die Einfuhr von Medikamenten etwa wird durch eine Aktiengesellschaft getätigt, die der Ärztegesellschaft gehört. Die große Mehrheit der Ärzte, vor allem der Spezialisten, wendet sich massiv gegen Chávez.

Ein Grund ist auch, dass er die kubanischen Ärzte ins Land geholt hat, damit sich endlich jemand mit der Gesundheit der Armen befasst. Schon vor Jahren hat die jetzige Regierung mit dem Aufbau einer parallelen medizinischen Struktur begonnen. Sie ist aber noch nicht sehr entwickelt, vor allem bei der hoch spezialisierten Medizin.

Ich glaube, dass Hugo Chávez mit Recht um seine Gesundheit hätte fürchten müssen, wenn er von Oberschichtärzten im eigenen Land behandelt worden wäre. Zudem ist die kubanische Medizin weltweit für ihre Qualität bekannt. Jedes Jahr lassen sich Tausende Lateinamerikaner dort behandeln.

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