Werbung

Was ist Traum, was ist wirklich?

Oper Erfurt

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 2 Min.

Die Frauen der Toten« heißt das neue Werk. Es ist die alljährliche, zuverlässig gelieferte Uraufführung der Oper in Erfurt. Für den Opernerstling des 1961 geborenen Komponisten Alois Bröder lieferte die gleichnamige Geschichte von Nathaniel Hawthorne (1804-1864) die Vorlage. Sie hat etwas von einer schwarz eingefärbten »Cosi fan tutte«. Aber nicht als »Operation am offenen Herzen«, sondern eher als Selbsterforschung am trauernden, oder gar sterbenden Herzen.

Die Ehemänner von Mary und Margret sind kurz nach der Hochzeit beim Militär und auf See umgekommen. Jetzt sind die beiden kinderlosen Frauen allein im gemeinsamen Haus. Das zeigt bei Norman Heinrich wie ein angeschnittenes Puppenhaus die Schlafzimmer der beiden jungen Witwen unter der Dachschräge und den tristen puritanischen Wohnbereich dieser seltsamen WG unten. In der Nacht nach der Beerdigung tauchen nacheinander der Nachbar und ein Jugendfreund auf, um den beiden Frauen mitzuteilen, dass der jeweilige Mann gar nicht tot sei. Was beide zunächst für sich behalten.

Das Prinzip dieser Geschichte und der Oper ist die Infragestellung der Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung. Was die melancholische, elegisch getragene, traurige Musik suggeriert und die Vorlage bewusst in der Schwebe lässt, verdeutlich Bröder durch die zwei Versionen, mit denen er die gleiche Geschichte erzählt.

Regisseurin Gabriele Rech vermag in der Trauer der Frauen die ganze Lebenstragik von unerfüllten Sehnsüchten und verbauten Perspektiven subtil zu verdeutlichen. In der ersten Version wird der Besuch der einen am Bett der andern zu einem Mordversuch mit plötzlich über den Kopf gedrückter Bettdecke. Die zweite Version endet sogar mit einem gemeinsamen Selbstmord. Die Beerdigung der Männer: im ersten Teil er Anfang, im zweiten der Schluss.

Dass alle Fragen offen bleiben, hat hier Methode. Und entspringt der die Traumdeutung antizipierenden Atmosphäre bei Hawthorne. In dessen Grauzonen-Vorliebe fühlt Alois Bröder sich mit seiner Komposition ein. Mit ariosen Vorlagen, die vor allem von Marisca Mulder (als Mary) und Mireille Lebel (als Margret) traumwandlerisch zum Leuchten gebracht werden.

Johannes Pell am Pult des Orchesters erweist sich als einfühlsamer Anwalt für diese neue Oper, zu deren Qualitäten auch ihre verstörende Nachwirkung zählt. Das mittlerweile uraufführungserfahrene Erfurter Publikum honorierte diesen Dienst an der Gattung angemessen.

Nächste Vorstellung: heute

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal