nd-aktuell.de / 08.02.2013 / Wissen / Seite 16

Hurra, hurra die Schule brennt!

Hamburg: Katastrophale Zustände in den Einrichtungen verhindern ambitionierte Bildungsreformen

Guido Sprügel
Die Bildungspläne des Hamburger Senats sind ambitioniert. Vor allem bei der Inklusion, also der gemeinsamen Beschulung von behinderten und nichtbehinderten Kindern, will man Vorreiter sein. Angesichts der Realität erscheinen diese Pläne wie eine Farce. Wie ernst die Lage ist zeigte sich, als kürzlich Hamburger Schulleiter einen Brandbrief an den Senat schrieben.

Man kann in jeden Kessel eine bestimmte Menge Dampf geben, bis er birst. Der Kessel der Hamburger Schulen scheint - zumindest in Stadtteilen in Problemlagen - kurz vorm Platzen zu stehen. Auf der sogenannten Elbinsel, bestehend aus Stadtteilen wie Kirchdorf-Süd, Wilhelmsburg und der Veddel, ist er wohl schon geplatzt, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Schließlich wohnt hier kaum jemand, der zur »bildungsnahen« Schicht gehört. Mit einem Brandbrief an Senator Ties Rabe (SPD) haben Anfang Dezember 2012 die Schulleiter aller 14 staatlichen Schulen auf die unhaltbaren Zustände in ihren Schulen hingewiesen. Der Brief ist ein Dokument der Ohnmacht, ganz ohne Jammern und mit einem sehr klaren Blick. Es sei zu einer »nicht mehr hinreichend bearbeitbaren Kumulation von Problemlagen gekommen, die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht«.

Die 39-jährige Grundschullehrerin Anne N., die ihren vollständigen Namen in der gegenwärtig angespannten Situation nicht in der Zeitung lesen möchte, startet jeden Morgen zu ihrer Schule im Reiherstiegviertel im Stadtteil Wilhelmsburg. Es ist ihre erste Schule, direkt nach dem Referendariat ist sie hier gelandet. Es ist »ihre« Schule - das merkt man ihr an. »Ich arbeite gerne an dieser Schule!«, sagt die Pädagogin. Diese Grundhaltung bewahrt sie auch bei, wenn sie von den Widrigkeiten des Schulalltags berichtet. Von verwahrlosten Kindern, Kollegen nahe am Zusammenbruch und chronischer Unterbesetzung.

In der öffentlichen Wahrnehmung wird sehr gerne der Kopf geschüttelt, wenn Lehrer über ihre Arbeitssituation berichten. Anstellerei, Jammerei wird dann gerne unterstellt. Anne N. jammert nicht und stellt sich nicht an. Sie macht engagiert ihren Job, überspitzt gesagt, egal, ob die Schule brennt oder nicht. Außenstehende würden wohl eher von einer brennenden Schule sprechen. »Die Kinder kommen mit zunehmend weniger Umweltwissen in die Schule. In meiner 1. Klasse denkt die Mehrzahl der Kinder, dass Bienen im Wasser wohnen. In deutschen Wäldern ist der Baby-Elefant beheimatet. Und von 17 Kindern sprechen fünf überhaupt kein Deutsch. Hinzu kommen weitere fünf Kinder, die einen attestierten Förderbedarf haben«, beschreibt Anne N. die Situation, in der sie arbeiten muss.

Schwer zu schaffen macht ihr neben dem mangelnden Umweltwissen aber auch die mangelnde Neugierde der Kinder. »Es ist so erschreckend. Diese kleinen Kinder haben offenbar keine Fragen mehr an ihre Umwelt. Sie sind schon in der 1. Klasse ganz schwierig zu motivieren.«

Immerhin kommen im Rahmen der Inklusion für fünf Stunden in der Woche eine Sonderpädagogin und für vier Stunden eine Erzieherin in den Unterricht hinzu. Ausgehend von den Bedürfnissen der Kinder ein Tropfen auf den heißen Stein. »Mit meiner jetzigen Klasse habe ich jedoch sogar noch Glück, da ich wenig Schüler mit Verhaltensproblemen habe. In den anderen Klassen unserer Schule sieht das ganz anders aus«, berichtet Anne N. Eine ihrer Kolleginnen hat ihre 3. Klasse einfach mal komplett auf sonderpädagogischen Förderbedarf hin getestet. »Die Kollegin war am Rande der Belastungsgrenze. Die Kinder haben so massive Verhaltensprobleme, dass stellenweise ein Erzieher alleine mit einem Kind beschäftigt war. Nur, diese Ressource haben wir eigentlich nicht.«. Das Testergebnis hat zumindest den Verdacht der Kollegin erhärtet: Von 15 Schülern erfüllten zwölf die Kriterien für eine sonderpädagogische Förderung, d.h. die Kinder haben eine Lern-, Verhaltens- oder Sprachbehinderung.

Dieses Ergebnis wie auch viele andere wurden der Behörde für Bildung in den letzten Jahren immer wieder mitgeteilt. Geschehen ist seither wenig. Die Zustände auf der Elbinsel sind mit der Einführung der Inklusion vor drei Jahren zunehmend unhaltbarer geworden. Denn entgegen der öffentlichen Wahrnehmung werden eben nicht in erster Linie geistig behinderte oder körperbehinderte Kinder integriert, sondern in Großstädten wie Hamburg besteht der Großteil der als behindert eingestuften Schülerinnen und Schüler aus Kindern mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten.

Und die haben es oftmals in sich. »Wir haben einen sehr hohen Prozentsatz von Schülern, die aggressiv sind, sich kaum an Regeln halten und in ihren Familien wenig soziale Geborgenheit erleben. Viele Flüchtlingskinder sind zudem von ihren Erfahrungen traumatisiert«, so Anne N. Die Grundschullehrerin kannte diese Kinder schon seit Beginn ihrer Tätigkeit. Viele der Kinder, die in privilegierten Stadtteilen wie Eppendorf und Blankenese längst in Sonderschulen überwiesen worden wären, wurden an ihrer Grundschule einfach weiter beschult. Und dennoch ist gerade die Arbeit in den oberen Klassen immer schwieriger geworden, da die Störungen der früher auf Sonderschulen umgeschulten Schüler noch einmal eine Nummer heftiger waren, als die bislang bekannten.

Anne N. fordert aus diesem Grund eine konsequente Doppelbesetzung in den Klassen und die Anstellung von Therapeuten. »Wir brauchen dringend einen Psychologen, einen Ergotherapeuten und einen Logopäden! Ich habe die Ausbildung für diese Schüler nicht«, fasst die Pädagogin das Dilemma zusammen.

Anne N. steht mit ihrem Schulalltag nicht allein. Während sie allerdings mehr Personal für die schwierigeren Kinder fordert, reagieren viele Schulen und Kollegen aufgrund der Probleme zunehmend ablehnend auf die Inklusion.

Diese Erfahrung musste auch Felix Lüdemann (Name geändert) machen, der sich auf die Beförderungsstelle eines »Inklusionskoordinators« an einer Stadtteilschule in Eidelstedt beworben hatte. Seinen richtigen Namen möchte der 36-Jährige nicht in der Zeitung lesen - er fürchtet, es könnte das Karriereende sein. Im Bewerbungsgespräch fragte er den Schulleiter nach der Einstellung der Schule gegenüber der Inklusion. »Das sei halt eine gesetzliche Vorgabe, bekam ich zur Antwort. Und auf meine Nachfrage, was von mir als Inklusionskoordinator erwartet würde, sagte der Schulleiter, dass er erwarte, nichts mehr mit der Inklusion zu tun zu haben«. Für Felix Lüdemann war die Sache damit gegessen. »Unter diesen Voraussetzungen wollte ich nicht dort anfangen«, sagt der Sonderpädagoge bitter.

Der Brandbrief der Schulleiter von der Hamburger Elbinsel wird an den Zuständen wohl nur temporär etwas ändern. Wahrscheinlich wird auf der Elbinsel jetzt etwas investiert, um an dieser Front Ruhe zu haben und den von den Schulleitern erwarteten »Deichbruch« abzuwehren. In der Debatte um den Brief hat die Grünen-Schulpolitikerin Stefanie von Berg jedoch richtig angemerkt, dass Wilhelmsburg »erst der Anfang ist. Der Deichbruch wird schulformbezogen passieren.« Und zwar an den Stadtteilschulen. »Die Vernachlässigung dieser Schulform fliegt dem Schulsenator jetzt um die Ohren«, so von Berg weiter.

Anne N. wird - egal wie sich die Lage entwickelt - weiter zu »ihrer« Schule fahren. Sie mag »ihre« Kinder, auch wenn sie ihr manchmal den letzten Nerv rauben. An ihren Forderungen hält sie jedoch parallel eisern fest. Denn sie möchte nicht in zehn Jahren »durch sein« mit dem Job.

Der Hamburger SPD-Senat hat sich Umsetzung der Inklusion auf die Fahnen geschrieben. Mit bescheidenem Erfolg, wie der Hamburger Landesverband der GEW kritisiert. Verantwortlich dafür sei die mangelnde Bereitschaft der Politik, auf die Vorschläge der Praktiker einzugehen. Vorschläge der Kammern, der Gewerkschaften, der Fachverbände, der Schulen, von Eltern, Pädagogen und Schülern seien ignoriert worden. Als problematisch wird u.a. der Mangel an baulich geeigneten integrativen Schulen gesehen. Statt den Personalschlüssel an den Regelschulen dem der vormaligen Sonderschulen anzupassen, sähen die die Pläne jetzigen Senats eine Herabsenkung der notwendigen Ressourcen vor«, kritisiert die GEW. (nd)