Lauter Anfänge

»Bühne auf!«: Ein feines, konkurrenzloses Lexikon für Bücherfreunde

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Geschrieben hatte er schon, als er noch nicht in der Wehrmachtsuniform steckte. Nun, gleich nach Kriegsende, saß er in seiner Kölner Behausung und hielt fest, was ihm und seinesgleichen widerfahren war. Er schrieb Kurzgeschichten, von denen einige auch in Zeitungen gedruckt wurden, kleinere Erzählungen und dann, 1948, in nur zwei Monaten die erste größere Prosaarbeit. Das Werk, natürlich, handelte vom Krieg und hieß »Der Zug war pünktlich«. Zwei Verlage lehnten das Manuskript ab, ein dritter, Friedrich Middelhauve in Opladen, druckte es schließlich, weil der Verlagsleiter von diesem Heinrich Böll schon einmal etwas gelesen hatte. Mitte Dezember 1949 wurde das Bändchen ausgeliefert. Aber es kam zur Unzeit. Die Leute, noch immer in Trümmerlandschaften zu Hause, wollten vom Krieg nichts mehr hören. Ein Jahr nach Erscheinen waren von den 3000 Exemplaren gerade mal 270 verkauft. Ende 1952 hatte man es auf dürftige 650 Exemplare gebracht. 23 Jahre nach seinem ersten Buch überreichte man Böll in Stockholm den Literatur-Nobelpreis.

Eine spannende Frage immer wieder: Wie hat einer begonnen, und wie ist es ihm mit seinem Debüt ergangen? Ein Band mit dem Titel »Bühne auf!«, noch druckfrisch, im Blick die Erstlingswerke deutscher Autoren, die im zwanzigsten Jahrhundert schrieben und veröffentlichten, geht jetzt den Geschichten nach, die mit der Publikation erster Bücher verbunden waren. Das beginnt mit Ilse Aichinger und endet bei Stefan Zweig. Dazwischen die riesige Galerie der Lyriker, Erzähler und Dramatiker, Namen über Namen, glanzvolle, weithin bekannte, auch vergessene. Etwas Ähnliches, dazu noch so schön präsentiert, gab's vorher nicht.

In diesem großformatigen und reich bebilderten Band wird nicht bloß stichwortartig, gedrängt und sachlich informiert, hier kriegt jeder Autor einen richtigen Artikel, hier wird beschrieben, erläutert, erzählt. Wer sich für Literatur, für Autoren- und Bücherschicksale interessiert, wer wissen will, wann und unter welchen Umständen Brecht, Kafka oder Strittmatter ihre erste Arbeit publizierten, ist in diesem klugen, faktengesättigten und unterhaltsamen Lesebuch bestens aufgehoben.

Seine Erfinder sind Elmar Faber und Carsten Wurm, der Leipziger Verleger und der Berliner Antiquar, beide Kenner und Buchliebhaber, und weil solch aufwendiges Kompendium allein schwer zu realisieren war, haben sie sich kompetente Unterstützung gesichert, die Autoren Michael Faber, Ulrich Faure, Cornelia Heinrich, Daniel Jurisch, Aron Koban und Tina Stöckemann.

Der Anfang, ein tückisches, selten selbstsicheres Unterfangen, hat viele Gesichter. Er kennt Freude und Schmerz, Glück hier und tiefe Enttäuschung da, den frühen Ruhm und auch den Sturz in die Tiefe. Kurt Tucholsky schrieb in bester Erzähllaune auf, was er bei einem heiteren Ausflug mit der Freundin erlebt hatte, und schaffte 1912 mit seiner Rheinsberg-Erzählung gleich den großen, noch immer anhaltenden Erfolg. Leonhard Frank, arm und hungrig und als Maler ohne Chance, entschloss sich in seiner Verzweiflung, einen Roman zu schreiben. Er brauchte ein halbes Jahr für die ersten Sätze, fand in Georg Müller, als er fertig war, einen Verleger mit Instinkt und wurde 1914 mit der »Räuberbande« gleich berühmt. Anna Seghers errang 1928, kaum dass ihr Erstling »Aufstand der Fischer von St. Barbara« vorlag, sogar den angesehenen Kleist-Preis.

Ganz anders Heinrich Mann. Sein erster Roman »In einer Familie«, das Gegenstück zu den »Buddenbrooks« seines Bruders, erschien, nachdem er von zwei Verlagen abgelehnt worden war, im Herbst 1894 in einem kleinen Verlag und in kleiner Auflage (ermöglicht nur durch den Druckkostenzuschuss der Mutter), dann nochmals 1898 und, überarbeitet, 1924, um schließlich ganz vom Markt zu verschwinden. Erst 2000 ist er bei S. Fischer wieder gedruckt worden. Uwe Johnson dagegen hat sein erstes Buch, den Roman »Ingrid Babendererde«, als Buch nie gesehen. Es erschien nach seinem Tod. Und auch das gab es: Fritz Rudolf Fries startete mit »Der Weg nach Oobliadooh«, dem Geniestreich eines mit Fantasie üppig gesegneten Erzählers, der ihn, veröffentlicht nur bei Suhrkamp, im Westen bekannt machte und zu Hause, in der DDR, den Arbeitsplatz kostete. Der Bericht über diesen Roman, verfasst von Elmar Faber, einst Fries-Kommilitone in Leipzig und später Fries-Verleger, ist ein signifikantes Beispiel für den Charakter des Lexikons, das den Autoren auch den Platz lässt, auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen.

In den Buchgeschichten, die hier beschrieben sind, steckt, wie könnte es anders sein, sehr viel Zeitgeschichte. Wie Böll tauchte, lange davor, auch Ulrich Becher in einem Augenblick auf, der ihm den Durchbruch verwehrte. Er debütierte Anfang 1932 mit dem Erzählungsband »Männer machen Fehler« bei Rowohlt. Ein paar Kritiker, darunter Peter Suhrkamp, hatten noch Gelegenheit, das Talent des 21-jährigen Schweizers zu würdigen, dann kamen die Nazis und verboten den Band. Auch Elias Canetti, der Jude aus Rustschuk, musste lange warten, bis deutsche Leser mit der »Blendung« einen der großen Romane des Jahrhunderts kennenlernten. Sein Erstling, erschienen 1936, in den 60er und 70er Jahren in immer neuen Ausgaben gedruckt, 1981 mit dem Nobelpreis bedacht, brachte gerade noch ein paar Eingeweihte zum Schwärmen, dann wurde er auch in Österreich verboten, und Canetti floh ins Exil nach England.

Die Autoren des Bandes haben erstaunliche Arbeit geleistet. Mitunter war's ja schwierig genug, ein Erstlingswerk überhaupt zu ermitteln, weil auch Literaturgeschichten nicht immer weiterhelfen. Über das Debüt Louis Fürnbergs, das Spiel »Eros und die Kinder«, vermutlich 1926 in Prag gedruckt, wusste nicht einmal Lotte Fürnberg etwas zu sagen. Den Lyriker Jakob Haringer, einen der leider Vergessenen, kennt mancher nur, weil Wulf Kirsten 1982 bei Aufbau eine Auswahl seiner Gedichte herausgegeben hat. Er startete 1917 mit einem 30-seitigen Heft, das zwei Jahre danach noch einmal in einer kleinen Vorzugsausgabe erschien. Weiß der Himmel, wo die Herausgeber die schmale Publikation aufgetrieben haben.

Es steckt ja überhaupt eine Menge Forscherlust und Finderglück in diesem Buch. Schließlich informiert es nicht bloß über Buch- und Autorenschicksale, Resonanz, Verlage, Ausstatter, Illustratoren, über Papier, Druck und Einbände. Allein das reichte, um dem Lexikon seine Attraktivität zu sichern. Hinzu kommt, dass es den Herausgebern gelang, alle Artikel mit Ansichten des Covers zu schmücken. Derlei stellt, solange es um Irmtraud Morgner, Hermann Kant, Günter Grass oder Martin Walser geht, vor keine besonderen Probleme, wird jedoch schwieriger, je älter die behandelten Werke sind, je prominenter die Autoren und Gestalter. Erstausgaben von Brecht, Benn oder Kafka lassen sich in Archiven oder Bibliotheken noch auftreiben, die Schutzumschläge eines Georg Salter aber gehören heute zu den Raritäten, die man fast nur noch bei Sammlern findet. Elmar Faber, Carsten Wurm und ihre Helfer haben so lange recherchiert und gesucht, bis sie selbst die extrem seltenen Erstveröffentlichungen auch im Bild vorstellen konnten.

Bücherfreunde werden dieses fantastische Lesebuch lieben. Es hat alles, was man sich wünscht, ergänzt jeden Artikel mit den wesentlichen Literaturangaben, bringt am Schluss ein ausführliches Literaturverzeichnis, ein Personen- und Verlagsregister und offenbart vom Vorsatz bis zur allerletzten Seite die bewundernswerte Qualität des Hauses Faber & Faber. Es ist bei so viel investierter Mühe und Sorgfalt nicht ganz billig, aber darüber werden sich Kenner, die staunend und glücklich im schweren Band blättern, kaum wundern.

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