Mechanische Greifarme formen Ziegelsteine und fügen sie zu einer Häuserwand zusammen, gesteuert über eine elektrische Schalttafel von einem Architekten, dem einzigen Menschen auf der gesamten Baustelle. So stellte sich der französische Künstler Villemard 1910 den Häuserbau im Jahr 2000 vor. Seine Vision erwies sich als etwas zu optimistisch.
Zwar wurden schon in den 1980er-Jahren in Japan erste konkrete Versuche unternommen, den Bau von Hochhäusern mithilfe von Robotern zu automatisieren. Doch der Ansatz, mit speziell konstruierten, teuren Maschinen Standardbauten zu errichten, konnte nicht überzeugen. Erst jetzt, ein gutes Jahrzehnt später als von Villemard erwartet, scheint die Robotik den nötigen Reifegrad erreicht zu haben, um sie auch beim Bau von Gebäuden sinnvoll einsetzen zu können.
Mehr als zwanzig Architektur-Institute weltweit hätten mittlerweile Industrieroboter und erforschten deren Nutzungsmöglichkeiten, sagen Sigrid Brell-Cokcan und Johannes Braumann von der Technischen Universität Wien. Um den Erfahrungsaustausch zu intensivieren, gründeten die Wiener Wissenschaftler zusammen mit anderen Forschern und Praktikern Anfang 2011 die »Association for Robots in Architecture«, die unlängst in Wien mehr als 200 Teilnehmer zur ersten Konferenz über »Robotic Fabrication in Architecture, Art and Design« versammelte.
Dort berichteten die Architekten Fabio Gramazio und Matthias Kohler von der ETH Zürich, wie sie mithilfe eines Roboters im Jahr 2006 die Fassade des Schweizer Weinguts Gantenbein errichteten. Wie von Villemard vorausgesehen, legte der Roboterarm tatsächlich Stein auf Stein - mit dem entscheidenden Unterschied, dass dabei keine glatte Mauer entstand. Vielmehr wurden 20 000 Ziegel nach einem zuvor am Computer ausgeklügelten Muster kreuz und quer zusammengefügt. Die so auf Lücke und in unterschiedlichen Winkeln zueinander gelegten Steine lassen genug Licht hindurch, schützen zugleich aber die dahinter liegenden Gärungsräume vor direkter Sonneneinstrahlung und bieten dem Betrachter von außen je nach Blickwinkel und Sonnenstand unterschiedliche Eindrücke.
Damit die Roboterarme auch tatsächlich jeden Stein so legen, wie von den Architekten gewünscht, müssen die Informationen aus den dreidimensionalen Computermodellen in Steuerbefehle für den Roboter umgesetzt werden. Die dafür erforderliche Software wird derzeit noch an den Forschungsinstituten selbst entwickelt. Bis es einfach zu bedienende Standardlösungen gibt, die auch niedergelassenen Architekten zugänglich sind, dürfte es noch einige Jahre dauern.
In jedem Fall aber, so Gramazio und Kohler, ist für den Einsatz der Robotiktechnologie ein Umdenken erforderlich. Paradoxerweise habe die Digitalisierung die Bedeutung des Materials erhöht, betonen sie. Das Material werde zum Informationsträger (»Material becomes informed«) und zwinge Architekten dazu, sich Konstruktionen auf ganz andere Weise als früher zu nähern: Statt ständig nur das Endprodukt im Blick zu haben, gehe es mehr und mehr darum, komplexe Prozessketten zu gestalten.
Das sieht Achim Menges ganz ähnlich. Die Berechnungen im Computer und ihre Materialisierung gehörten zusammen, betont der Leiter des Institute for Computational Design (ICD) an der Universität Stuttgart.
Die Stuttgarter Forscher beziehen einen Großteil ihrer Inspiration aus der Biologie. Dort untersucht die theoretische Morphologie, warum sich aus der Fülle möglicher Körperformen im Lauf der Evolution nur einige wenige tatsächlich herausgebildet haben. Das Konzept der Möglichkeitsräume (Morphospaces) übertrugen sie auf die Architektur. Ihr Pavillon besteht aus 855 vier- bis siebeneckigen Sperrholzplatten, deren jede ein Unikat ist. Zusammengefügt wurden sie ausschließlich durch Steckverbindungen, ohne andere Hilfsmittel wie Klebstoff oder Metallschienen.
Bei der Gestaltung des zwölf Meter durchmessenden Pavillons, der zusammen mit dem Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) errichtet wurde, orientierten sich die Forscher am Vorbild des Sanddollars, einer Seeigel-Art mit abgeflachtem, unregelmäßig geformtem Skelett. In einem mehrstufigen Prozess erkundeten sie zunächst, welche Kombinationen von Holzplatten überhaupt geometrisch möglich wären. Die dafür entscheidenden Parameter waren die Größe der einzelnen Platten, der Winkel, unter dem sie mit den benachbarten Platten verbunden sind, und der Winkel, mit dem ihre Kanten zueinander stehen. Als nächstes untersuchten sie, welche Formen mit einer gegebenen Roboterkonfiguration realisierbar wären, was den Morphospace weiter einschränkte. Die mehr als 100 000 Steckverbindungen wurden schließlich von einem Sechsachsen-Roboterarm in den jeweils erforderlichen Winkeln gefräst, wobei eine Drehscheibe, auf der die Holzplatte montiert war, als siebte, externe Achse diente. Mit lediglich zwei Kubikmetern Holz konnte auf diese Weise ein 200 Kubikmeter umfassender Raum realisiert werden.
Wie es scheint, erfüllt sich Villemards Vision von der Roboterarchitektur nicht nur später als gedacht, sondern auch ganz anders: Statt beim Bau gewöhnlicher Häuser menschliche Arbeitskräfte zu sparen, ermöglichen die Maschinen vielmehr Bauten, die mit konventionellen Methoden gar nicht oder nur mit sehr großem Aufwand realisierbar wären. Gut möglich, dass Industrieroboter, die sich bislang an Werten wie Schnelligkeit, Präzision und Wiederholgenauigkeit orientierten, in der Architektur der Vielfalt und der Überraschung zu einer Renaissance verhelfen. Damit hätte Villemard wohl kaum gerechnet - aber es hätte ihm vielleicht gefallen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/814523.verspielt-bauen-mit-mechanischen-helfern.html