nd-aktuell.de / 02.03.2013 / Kommentare / Seite 1

Wie ein Staat aus der vierten Welt

Tom Strohschneider

Demokratie ist, so ließe sich in Anlehnung an ein geflügeltes Wort des Schriftstellers Otto Julius Bierbaum sagen, wenn man trotzdem wählt. Freilich macht es einem die Politik nicht gerade einfach, sich dem Ärger über Parteien und parlamentarischer Selbstbezogenheit zum Trotz dafür zu begeistern. Wann immer hierzulande Bürger befragt werden, wie zufrieden sie mit dem Funktionieren der Demokratie sind, winkt ein großer Teil ab. Das hat Gründe. Und es sind vor allem die Parteien, deren Ansehen mit Beständigkeit sinkt und die beharrlich genau dies provozieren.

Ein Beispiel, das in der Woche der Papstschlagzeilen und Ernährungsskandale eher am Rande lief: Die SPD hat sich dafür ausgesprochen, Analphabeten durch eine Bebilderung von Stimmzetteln beim Wählen zu helfen. Es geht um Hunderttausende, vielleicht Millionen. Experten sind zwar nicht sicher, wie vielen Menschen Kandidatenfotos und Parteilogos tatsächlich den Weg eröffnen könnten, ihr Stimmrecht besser in Anspruch zu nehmen. Aber einmal abgesehen von der Selbstverständlichkeit des Ansinnens, sehen Grundgesetz und internationale Verpflichtungen genau dies vor: allen, auch denen mit Handicap gleich welcher Art, Zugang zur praktizierten Demokratie zu ermöglichen.

Rainer Brüderle, dessen Partei sich des Liberalismus rühmt, wies den SPD-Vorstoß mit dem Hinweis zurück, die Bundesrepublik dürfe mit Bildchen auf Wahlzetteln doch nicht so tun, »als seien wir ein Staat aus der vierten Welt«. Zudem sei es wichtiger, für bessere Bildungsstandards zu sorgen. Ja sicher, aber davon haben jene, die jetzt nicht lesen können, wenig.

Brüderles Schnoddrigkeit gegenüber dem Wahlrecht ist kein Einzelfall. Erst in dieser Woche haben Verbände und Oppositionspolitiker wieder gefordert, Teilhabe nicht länger dadurch zu untergraben, dass man dieser oder jener Gruppe auch künftig erschwert, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Oder sie gleich ganz ausschließt, wie etwa Menschen, die aufgrund einer Behinderung in allen Angelegenheiten betreut werden und deshalb bisher keine Stimme haben. Dafür kann es keinen guten Grund geben. Und der nun von der Union ins Feld geführte ist auch kein solcher: dass es nun einmal Menschen gebe, für die das Wahlrecht aufgrund von Einschränkungen »nur eine theoretische Größe« sei, wie es der CDU-Politiker Günter Krings in dieser Woche formuliert hat.

Nur eine theoretische Größe? Die Stimmabgabe ist doch keine Möglichkeiten unter vielen, etwas, dass ein Herr Krings hier gewährt und über das sich ein Herr Brüderle dort belustigen kann. Mit Bierbaum gesagt: Demokratie wäre erst, wenn man trotz allem wählen kann. Das ist nicht nur eine Frage des formalen Zugangs und der Gestaltung der Wahlzettel. Aber sie ist es, neben sozialen und ausländerrechtlichen Hürden, eben auch. Solange Parteipolitiker dies für eine Lächerlichkeit halten, solange sie seit langem geforderte Veränderungen unter Verweis auf ausstehende Studien ewig vertrösten, solange muss sich auch niemand über den Ansehensverlust von Parteien wundern.

Denen vertrauen, so hat in dieser Woche mal wieder eine Umfrage ergeben, drei Viertel der Bürger nur noch wenig bis überhaupt nicht mehr. In einem Land, das sonst sehr viel auf seine Demokratie hält. Und das in manchen Fragen der politischen Teilhabechancen von Hunderttausenden doch eher dem Brüderleschen Bild entsprich: »wie ein Staat aus der vierten Welt« zu sein.