nd-aktuell.de / 08.03.2013 / Politik / Seite 4

Geschichte neu schreiben?

Ulrich Schneider ist Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR)

nd: Nach einer jetzt veröffentlichten Studie, in Auftrag gegeben vom Holocaust Memorial Museum in Washington, gab es mindesten 42 500 NS-Lager. Überrascht Sie diese Zahl?
Schneider: Nein. Die Frage ist, wie man Lager definiert, welche Kriterien Anwendung finden, welche Bereiche der Lager man aufnimmt. Die Zahl erhöht sich extrem, wenn man beispielsweise alle Arbeitsorte eines Stalag, an denen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, hinzuzählt, statt nur das Stalag und seine drei oder vier großen Außenkommandos zu vermerken. Oder wenn man alle Arbeitsgelegenheiten einrechnet. Wir haben allein in Kassel 135 Orte, an denen Zwangsarbeiter regelmäßig, in größeren und kleineren Gruppen, beschäftigt waren.

Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer hat vor zwei Jahren selbst eine Europa-Karte mit den Standorten von KZ, Zwangsarbeits- und Kriegsgefangenenlagern herausgebracht, die schon die dritte Auflage erlebte. Mittel- und Osteuropa erscheinen hier wegen der vielen Lager als einziger schwarzer Fleck.
Wir haben auf dieser Karte 2400 Orte benannt, in denen sich jeweils mehrere Lager befanden. Um wieder das Beispiel Kassel zu bemühen: Hier gab es auch mindestens zwei Außenkommandos des KZ Buchenwald. Es gab lagerähnliche Einrichtungen, die nicht einmal ein halbes Jahr bestanden. Wenn man diese alle mit auflistet, was sehr schwer ist, erhöht sich natürlich die Zahl weiter.

Die Gedenkstätte Yad Vashem kritisierte, dass die Washingtoner Studie nicht zwischen Ghettos und Lagern unterscheidet. Haben Sie damit auch ein Problem?
Nein. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Ghettos, Arbeits- und Vernichtungslagern, aber nicht hinsichtlich der Tatsache, dass hier Menschen aus rassistischen und auch zum Teil aus ökonomischen Gründen diskriminiert, gequält und zu Tode gebracht worden sind.

Nunmehr sei, so heißt es, bewiesen, dass jeder Deutsche gewusst habe, was im »Namen des deutschen Volkes« Angehörigen anderer Völker angetan wurde.
Das ist eine hilflose Aussage. Denn die Wahrheit ist schon lange bekannt. Nicht von ungefähr hatte die deutsche Bevölkerung 1945, nach der Befreiung vom Faschismus und Krieg, zum Teil viel größere Angst vor der Rache der ehemaligen Häftlinge und Zwangsarbeiter als vor den Alliierten. Diese Angst entsprang dem Wissen darüber, was in den Lagern in ihrer Umgebung geschehen ist.

Muss, wie auch schon zu hören war, nun die Geschichte des Holocaust neu geschrieben werden?
Ganz sicher nicht. Sie erwähnten unsere Lager-Karte - übrigens für zwölf Euro bei VVN und FIR erhältlich. Wir präsentierten sie auf einer internationalen Pressekonferenz. Viele Zeitungen im Ausland berichteten, in Deutschland nur drei. Die Studie aus Washington hat in fast allen deutschen Medien Platz auf Seite 1 oder Seite 2 gefunden. Es geht nicht darum, die Geschichte des Holocaust neu zu schreiben, sondern darum zu erreichen, dass die Verbrechen unterm Hakenkreuz in der Öffentlichkeit wahr- und ernstgenommen werden, nicht in Vergessenheit geraten. Und wenn dies einer solchen Studie gelingt, ist es okay. Sie kann Anlass sein, sich weiter mit altem und neuen Faschismus auseinanderzusetzen.

Fragen: Karlen Vesper