nd-aktuell.de / 11.03.2013 / Politik / Seite 2

Die Katastrophe vor der Haustür

28 000 Menschen forderten die Stilllegung aller Atomkraftwerke

Andreas Schug
Ein verheerendes Erdbeben und eine gewaltige Flutwelle führten am 11. März 2011 in Japan zum Atomunfall von Fukushima. Die Naturkatastrophe fordert rund 15 800 Tote. Die Unglücksregion um das Kernkraftwerk Fukushima ist auf Jahrzehnte oder noch länger unbewohnbar. Dennoch denkt Japan nicht an den Atomausstieg. Anders in Deutschland, wo die Proteste gegen Atomkraft fortgesetzt werden. Auch in Frankreich regt sich zunehmend Protest.

»Dann würde ich also keine Jodtabletten bekommen, weil ich schon über 45 bin«, stellt eine 52-jährige Frau aus Hildesheim ernüchtert fest. Sie steht im khakibraunen Notzelt, das die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW in der Hildesheimer Fußgängerzone vor der Rathausapotheke errichtet hat. Zuvor hat der Geigerzähler bei einer simulierten Strahlenmessung ausgeschlagen. Im Ernstfall müsste die rothaarige Frau in eine provisorische Dusche mit Kunststoffwannen zur Dekontamination. Der IPPNW-Mitarbeiter mit Geigerzähler und Gesichtsschutz will nicht beschwichtigen und setzt noch einen drauf: »Wir gehen davon aus, dass am Eingang des Zeltes Strahlung vorliegt.« Am »unverstrahlten« Ausgang wartet ein Bündel aus Koffern und Paketen. Niemand rührt es an. Wo sollten die Betroffenen auch hin, wenn das AKW Grohnde havarierte?

Zwei Meter neben dem Zelt zeigt ein Messingrelief das mittelalterliche Hildesheim mitsamt Stadtmauer im Miniaturformat. Die Strahlenwolke würde alle Mauern und Grenzen überwinden. Hildesheim liegt nur 40 Kilometer östlich von Grohnde. Selbst bei niedrigen Windgeschwindigkeiten von acht Kilometern pro Stunde wäre die Radioaktivität bei Westwind innerhalb von fünf Stunden in der Großstadt mit 100 000 Einwohnern angelangt. Damit Jodtabletten die Schilddrüsen vor radioaktivem Jod schützen können, müssten diese aber mindestens sechs Stunden vor der Strahlenbelastung eingenommen werden.

Vor dem IPPNW-Zelt zieht in violetten Schürzchen eine Sambagruppe von Attac vorbei, gefolgt von einer kleinen Demo. Zehn Minuten später folgt eine sechsköpfige Trommelgruppe in Grün, die auf gelbe Atommüllfässer eindrischt - Greenpeace-Aktivisten. Überall gibt es Aktionen. Links und rechts weisen Absperrbänder und Schilder mit der Aufschrift »Sperrgebiet im Fall eines Super-GAU im AKW Grohnde« auf die nahe Gefahr hin. Fünf nach 12 ist hundert Meter weiter eine Menschenkette entstanden, an der ein Aktivist knatternd die Strahlung der vorbeifahrenden Autos misst. Die Kette reicht durch weite Teile der Hildesheimer Innenstadt, ist aber trotz Verlängerung mit Flatterbändern nicht überall geschlossen. Eine lückenlose »Umzingelung« hat das Organisationsteam auch nicht geplant. An 200 Aktionspunkten soll verdeutlicht werden, was ein Reaktorunfall bedeuten würde.

»Wir gehen davon aus, dass man Ballungsgebiete wie Hannover mit einer halben Million Einwohner nicht evakuieren könnte, sagt der Sprecher der AG Schacht Konrad am Nachmittag in Göttingen. Das Vorbereitungsteam wirkt sichtlich erleichtert, dass sich trotz Kälte und Nieselregen nach eigener Auszählung fast 20 000 Menschen auf den Weg machten. Insgesamt 8000 Teilnehmer wurden an den AKWs in Gundremmingen und Neckarwestheim sowie vor der Brennstofffabrik in Gronau gezählt. Die Umweltorganisation Robin Wood kritisiert indessen in einer Erklärung, dass die Regierung Merkel den Ausstiegsbeschluss untergrabe. Die «sogenannten Strompreis-Bremsversuche von Wirtschaftsminister Philipp Rösler und Umweltminister Peter Altmaier und die Infragestellung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes» gefährdeten den Erfolg der Energiewende.«

Am heutigen Montag werden Strahlenflüchtlinge aus Japan, die seit dem GAU von Fukushima im südlichen Osaka wohnen, von Göttingen nach Berlin zur japanischen Botschaft fahren. Eine bei der Mahnwache geplante Anpflanzung von Kirschbäumen im Tiergarten wurde verboten.