»Öfter mal aufs Maul«

Verkauf der Straßenzeitung »Motz« ist umkämpfter Markt

  • Steffen Trumpf
  • Lesedauer: 4 Min.

Toms Hände sind schwarz von Druckerschwärze und Dreck. Aus seinem bärtigen, von Straßenschmutz gezeichneten Gesicht funkeln helle und hektische Augen. Seine leise Stimme murmelt das Mantra der vergangenen Jahre: »Schönen juten Tach, darf ich Ihnen die ›Motz‹ anbieten?« Die Menschen gehen an ihm vorbei und erledigen ihre Abendeinkäufe. Einer kauft ihm für 1,20 Euro eine Zeitung ab, als einziger an diesem ungemütlichen Winterabend. Abzüglich des Einkaufspreises für die »Motz« bleiben Tom davon 80 Cent. Das reicht ihm fast für ein Abendessen. Glücklich blickt Tom trotzdem nicht drein. »Ich hab Stress mit den Rumänen«, sagt er.

Tom ist 45 Jahre alt und lebt seit Jahren auf der Straße. Er hat das Gesicht eines Jungen, der sich einen Bart wachsen ließ, um älter zu wirken. Und er hat Augen, die wütend aufblitzen können, wenn er auf die Konkurrenz in seinem Gewerbe angesprochen wird. Tom verkauft seit sieben Jahren die Straßenzeitung »Motz« - passenderweise in der Motzstraße in Schöneberg. Sein Arbeitsplatz ist in Gefahr, weil die Zeitungen längst nicht mehr bloß von Obdachlosen verkauft werden, wie es die Macher der Straßenzeitung bei der Gründung 1995 vorgesehen hatten. Mittlerweile streiten sich die Wohnungslosen mit Hartz-IV-Empfängern, Rentnern und Einwanderern um die besten Plätze.

»Es gibt eine neue Generation von ›Motz‹-Verkäufern. Die sind nicht mehr obdachlos und bekommen oft Sozialgelder«, sagt Tom. Nach einer kurzen Pause ruft er empört: »Manche arbeiten sogar!«

Neuerdings steht mehrmals in der Woche »ein Rumäne« vor seinem Supermarkt. Der will ihn verdrängen, sagt Tom. »Früher hab ich bis zu 100 Euro gemacht, jetzt gibt›s an einem guten Tag höchstens einen Zwanni.‹« Tom wurde das Geschäft kaputt gemacht, sagt er. Tatsächlich kommt der Mann, der Tom den Platz streitig macht, aus Moldau, wo man Rumänisch spricht. Sein Name ist Mario. Seit knapp drei Monaten steht er regelmäßig vor dem Supermarkt, den vorher ausschließlich Tom für sich beansprucht hat. Gegen die Kälte hat er die blaue Kapuze seines Pullovers über die Mütze gezogen. Unruhig tritt er von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten. Es blitzt einem ein herzliches Lächeln entgegen, wenn man Mario für einen kurzen Plausch anspricht. Ernst wird sein Gesichtsausdruck dagegen, wenn er auf die Situation unter den Verkäufern angesprochen wird. »Muss auch leben«, sagt er. Es gebe zu viele Verkäufer. Durchschnittlich verdient er nach eigenen Angaben am Tag um die acht Euro.

Wie es zwischen den Straßenverkäufern im sonst so friedlichen Westen Berlins zugeht, weiß Peggy Kaufmann. Die 43 Jahre alte Sozialpädagogin sitzt in einem winzigen Wohnwagen am Nollendorfplatz und verteilt »Motz«-Exemplare an die Verkäufer: eine Ausgabe für 40 Cent, gratis dazu gibt es ein paar warme Worte und manchmal etwas zu essen.

Vor einigen Monaten ging das mit den neuen Verkäufern los, auch Kaufmann spricht von »Rumänen«. Anstatt zwei oder vier Ausgaben, wie sie die meisten bei ihr einkaufen, holen sie sich morgens gleich 20 oder 30 Zeitungen, erzählt sie. Nachmittags kommen sie wieder und holen den zweiten Schwung. »Die sind ziemlich gut organisiert. Wenn einer krank ist, kommt der nächste und stellt sich vor den Supermarkt. Leute wie Tom sind da eher Einzelgänger.« Und wenn einer wie Tom auf seinem langjährigen Stammplatz besteht? »Dann gibt›s öfter auch mal aufs Maul.‹«

Seitdem der Markt härter geworden ist, ist Tom viel dünner und schlaffer geworden, findet Kaufmann. »Was war das für ein hübscher Junge! Aber er hat wahnsinnig abgebaut.«

Viele haben sich an diesem kalten Tag in die U-Bahnen zurückgezogen, was ein groteskes Bild ergibt: Allein auf dem 15-minütigen Weg vom Nollendorf- zum Alexanderplatz steigen nacheinander zwei »Motz«-Verkäufer und auch noch ein Straßenmusiker-Duo in die U2, um mit Klageliedern und -sprüchen um die Cents der Touristen und Berliner zu kämpfen. »Sonst gibt›s heute Abend nix zu beißen‹«, sagt einer der Verkäufer. Am Alex angekommen, empfängt die Fahrgäste auch noch ein Verkäufer einer weiteren Obdachlosenzeitung. Berlin, die Arm-aber-sexy-Metropole, ist gleichzeitig auch die Armen-Hauptstadt der Republik.

Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland etwa 248 000 Wohnungslose, in Berlin liegt die Zahl bei ungefähr 10 000. Die Einnahmen aus dem »Motz«-Verkauf sind für viele kein Zubrot, sondern überlebenswichtig, berichtet Peggy Kaufmann im Wohnwagen. »Wir haben ein paar Todeskandidaten.«

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