Vorsätzlich vergessen?

Die Operette der DDR

  • Kevin Clarke
  • Lesedauer: 8 Min.

Auf den ersten Blick würde man meinen, dass an einer umfassenden Aufarbeitung der DDR-Geschichte kein Mangel besteht. Regelmäßig erscheinen Bücher, Ausstellungen, Dokus und Spielfilme, die alle nur erdenklichen Aspekte der DDR-Geschichte beleuchten. Umso erstaunlicher, dass ein ganzer Forschungszweig das Thema mit Missachtung straft. Die Rede ist von der deutschsprachigen Operettenforschung und ihrer Totalverweigerung, sich mit dem sogenannten »Heiteren Musiktheater« der DDR auseinanderzusetzen.

Das hat eine andere Entwicklung erlebt als die Nachkriegsoperette im Westen. Während in der DDR versucht wurde, Operette als lebendige Kunstform neu zu beleben - mit einer Vielzahl erfolgreicher Uraufführungen wie »Bolero« (1952), »Messeschlager Gisela« (1960), »In Frisco ist der Teufel los« (1962) oder »Mein Freund Bunbury« (1964) -, wurde das Genre im Westen regelrecht abgewickelt. Es ging nur mehr darum, alte Stücke zu recyceln und in ein folkloristisches Nostalgiegewand zu stecken, mit ewig wiederholten Titeln wie »Schwarzwaldmädel«, »Csárdásfürstin« und »Im weißen Rössl«. Titel, die irgendwann in dieser Retro-Form niemanden mehr interessierten - und die vom US-Musical einfach überrollt wurden.

In der DDR hingegen wurde seit den 50er Jahren bewusst eine neue Tradition mit Stücken geschaffen, die den veränderten Alltag reflektieren und kritisch durchleuchten sollten. »Vielfältige Bemühungen um eine neue Operettenkunst drücken überzeugend aus, welche kulturpolitische Konzeption der sozialistische Staat auf dem Gebiet der Unterhaltung verfolgt«, schrieb Otto Schneidereit 1968 in seinem Buch »Berlin, wie es weint und lacht«. Eine Beschäftigung - heute - mit diesen »kulturpolitischen Konzeptionen« ist auch für Nachgeborene spannend, da sich anhand der entsprechenden Stücke von Gerd Natschinski, Guido Masanetz und anderen viel über das Selbstverständnis und ideologische Wunschdenken der DDR-Machthaber ablesen lässt.

Als meine Co-Kuratorin Marie-Theres Arnbom und ich vor einem Jahr in Wien am Theatermuseum eine große Ausstellung mit dem Titel »Welt der Operette« eröffneten, ging es uns darum, die vielen Widersprüche des Genres zu beleuchten und vor allem die Parallelwelten aufzuzeigen, die von Anfang an den Reiz der Kunstform ausmachten: die frech-frivole Operette Offenbachs auf der einen und die rührselige Gute-alte-Zeit-Operette auf der anderen Seite. Oder die »entartete« Jazz-Operette der Weimarer Jahre im Gegensatz zur »arisierten« Opium-fürs-Volk-Operette der Nazis. Auch auf die innerdeutschen Parallelwelten wollten wir hinweisen und das Thema für die spätere Münchner Variante der Schau mit einer eigenen Wand und eigenen Exponaten ausführlicher behandeln. Dazu wurde für den Katalog ein Essay beim Spezialisten Roland Dippel in Auftrag gegeben, der erste große Text zum Thema überhaupt.

Operettenpapst a.D. Volker Klotz etwa behandelt in seinem Werk »Operette: Handbuch einer unerhörten Kunst« (1991/2004) so ziemlich alles, nur eben DDR-Operetten nicht. Es gibt sie in seinem Operettenuniversum einfach nicht. Auch nicht in anderen Operettenbüchern der Nachkriegszeit, sieht man von Otto Schneidereits »Operette A-Z« (1965) ab oder vom wunderbaren Katalog »Theater in Berlin nach 1945: Musiktheater«, den die Stiftung Stadtmuseum Berlin 2002 beim Henschel Verlag herausgebracht hat. Aber sonst? Weit und breit nichts.

Der Chef des Brandstätter Verlags, wo unser Ausstellungskatalog erschien, fragte geradeheraus: »Wen interessiert schon die Operettengeschichte der DDR? Wir sind hier in Wien und haben unsere eigene Tradition!« Er wollte deshalb den Katalogbeitrag von Herrn Dippel streichen, was nur durch Widerspruch der Kuratoren verhindert wurde. Denn wir fanden, dass eine Beschäftigung mit der DDR-Operettengeschichte überfällig sei. Aber auch die Direktorin des Münchner Museums schien kein Interesse an DDR-Dingen zu haben. Die für die dortige Ausstellung neu geplante DDR-Wand reduzierte man auf ein lächerliches Minimum an Exponaten und Informationen. Der Großteil der Fläche blieb leer und einige besonders interessante Aspekte durften schlichtweg nicht erwähnt werden.

Man mag auch staunen, dass heute in Theatern - inklusive jenen im Gebiet der ehemaligen DDR - kein einziger Titel des DDR-Repertoires gespielt wird. Roland Dippel, der selbst als Dramaturg am Theater Rostock arbeitet, sagt dazu: »Vor zehn Jahren schien es noch, als würde neben den regelmäßigen Einstudierungen von ›Mein Freund Bunbury‹ in den neuen Bundesländern mit den Neuproduktionen von ›Messeschlager Gisela‹ an der Neuköllner Oper und am Opernhaus Chemnitz sowie von ›Servus Peter‹ am Theater Annaberg eine Renaissance des Operetten- bzw. Musical-Schaffens der DDR einsetzen.« Heute, so Dippel weiter, scheine es hingegen so, als ob »für DDR-Operetten kein Bedarf besteht, auch nicht an der Staatsoperette Dresden und der Musikalischen Komödie Leipzig, den beiden einzigen reinen Operettenhäusern der Gesamtrepublik, die direkt aus der Operettenpflege der DDR hervorgegangen sind und daher eigentlich eine besondere Nähe zu diesem Repertoire haben müssten.«

Die Staatsoperette Dresden unter ihrem Intendanten Wolfgang Schaller widmete sich in den letzten Jahren in Form von Tagungen vielen Operettenthemen. Nur nicht dem Thema »DDR«. Fast so, als würde man sich in Dresden für die eigene Vergangenheit schämen. Während an der Staatsoperette Neueinspielungen von seltenen Johann-Strauß-Stücken entstehen, schlummern die vorhandenen Aufnahmen von berühmten DDR-Werken in den Archiven und sind - ausnahmslos - nicht auf CD erhältlich. Und das, obwohl auf diesen Aufnahmen berühmte Künstler wie Gisela May oder Reiner Süß zu hören sind, etwa in »In Frisco ist der Teufel los«, bis zur Wende eines der meistgespielten Musiktheaterwerke der DDR.

2014 steht der 100. Geburtstag des »Frisco«-Komponisten Masanetz an. Roland Dippel hat sich als Musiktheaterdramaturg des Volkstheaters Rostock für eine Neuproduktion des Stücks stark gemacht, das nach 1989 nicht mehr aufgeführt wurde. »In die maritime Soziokultur der Hansestadt würde es hervorragend passen«, sagt Dippel, »überdies setzt der Verlag Bärenreiter/Alkor auf den bevorstehenden runden Geburtstag des sich bester Gesundheit erfreuenden Komponisten. Neben Rostock, wo das Projekt aufgrund der wirtschaftlich und kulturpolitisch drastischen Situation höchstwahrscheinlich platzen wird, hat nur ein weiteres Theater vages Interesse an ›Frisco‹ bekundet.«

Dabei ist diese »kritische Durchleuchtung des amerikanischen Alltags«, wie Schneidereit einst - aus der Perspektive des Sozialismus - schrieb, nicht nur oftmals unfreiwillig komisch für heutige Betrachter, sondern als Zeitdokument endlos faszinierend. Und schmissig ist die Musik von Masanetz allemal. Sie malt das Geschehen rund um Alkoholschmuggler im Hafen von San Francisco mit den Mitteln der DDR-Tanzmusik, die wie amerikanischer Jazz klingen soll. Ein großes Klassenkampf-Opus, in dem am Ende die bösen Kapitalisten untergehen und die guten Hafenarbeiter kameradschaftlich zusammenrücken.

Schuld am gegenwärtigen katastrophalen Zustand rund um die DDR-Operette haben auch die Verlage, die nach dem Zusammenbruch der DDR die entsprechenden Titel übernommen haben. Einerseits sind sie nicht daran interessiert, Studien zum DDR-Schaffen zu veröffentlichen, selbst wenn ihnen diese druckfertig angeboten werden, wie im Fall von Roland Dippel. Andererseits ergreift etwa der Verlag Schott International, der den Vertrieb des Notenmaterials von den DDR-Verlagen Henschel und VEB Lied der Zeit übernommen hat, keine Initiative zur Promotion der Werke.

»Heute, fast 24 Jahre nach dem Fall der Mauer, ist es so gut wie aussichtslos, DDR-Operetten zu positionieren«, meint Dippel. »Einerseits ist die Hochphase der Ostalgie abgeebbt, in der Wiederaufführungen auf ein breiteres Interesse gestoßen wären. Zum anderen unterscheiden sich die Werke zu sehr von den heute populären Musicals und ihren Sujets. Die Theaterleitungen scheuen sich, die vermuteten Erwartungen ihres Operetten- und Musicalpublikums zu unterwandern.« Dem steht gegenüber, dass beim Festkonzert zum Jubiläum »100 Jahre Musikalische Komödie« im November 2012 der Block mit Ausschnitten aus DDR-Werken weit heftigeren Applaus erhielt als Ausschnitte aus bekannten West-Werken.

Die DDR-Titel würden auch Operetten- und Musicalforschern interessante Vergleiche erlauben. Kann beispielsweise die Oscar-Wilde-Adaption vom »Bunbury« als direkte Antwort auf das erfolgreiche US-Musical »My Fair Lady«, eine George-Bernhard-Shaw-Adaption, gesehen werden? Ist »Messeschlager Gisela« eine Antwort auf das Musical »Pyjama Game« (mit Doris Day verfilmt), wo es ebenfalls um Mode, Arbeiter und Gewerkschaften geht, nur eben aus US-Blickwinkel? Auch könnte man »Messeschlager Gisela« in Bezug setzen zum DEFA-Film »Heißer Sommer« von 1967, der nicht nur viele Elemente von »Gisela« weiterführt, sondern ebenfalls Musik von Gerd Natschinski enthält, die hier Schlagerstar Frank Schöbel singt.

Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem »Heiteren Musiktheater« der DDR bleibt ein Desiderat, dessen sich auch Forscher aus den alten Bundesländern problemlos annehmen könnten. Es ist ja nicht so, als würde die (Kultur)Geschichte der DDR nur ehemalige DDR-Bürger betreffen.

Guido Masanetz, der Komponist von »In Frisco ist der Teufel los«, wurde 1914 in Böhmen geboren. Nach der Gründung der DDR komponierte er für die III. Weltfestspiele 1951 in Berlin die Kantate »Mehr Kohle für den Frieden« und zum Tag der Republik 1951 die Kantate »Unser Weg«. 1956 wurde am Metropoltheater seine Operette »Wer braucht Geld?« uraufgeführt, die von Maurycy Janowski überarbeitet unter dem Titel »In Frisco ist der Teufel los« 1960 zum Riesenerfolg werden sollte. Das Stück handelt von Alkoholschmugglern in den USA und vom Klassenkampf im Hafen von San Francisco. Es wurde seit 1989 nirgends mehr aufgeführt, obwohl es bis dahin eines der meistgespielten Musiktheaterwerke der DDR war. Ob es zu Masenetz' 100. Geburtstag im kommenden Jahr wieder auf eine Bühne gelangt, ist ungewiss.

Gerd Natschinski, 1928 in Chemnitz geboren, wurde zunächst als Komponist von Tanz- und Filmmusik bekannt. »Messeschlager Gisela« war sein drittes Bühnenwerk, das rund um den »VEB Berliner Schick« ein musikalisches Bild der Leipziger Messe zeichnet. 1960 ging es am Berliner Metropol-Theater in Premiere. Über »Mein Freund Bunbury« von 1964 schrieb das »Neue Deutschland«: »Eine handfeste Operette (modern natürlich ›Musical‹ genannt) ist aus Oscar Wildes Komödie geworden.« 1969 wurde Natschinski mit der Verdienstmedaille der DDR geehrt. Er lebt in Berlin, wo sein »Messeschlager« 1998 an der Neuköllner Oper in der Inszenierung von Peter Lund ein großer Publikumserfolg wurde. Seither ist das Werk von allen Spielplänen verschwunden.

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