nd-aktuell.de / 04.04.2013 / Kultur / Seite 15

Im Fluss der Wörter

Jeden Tag aufs Neue wirft Lothar Lemnitzer seine Netze aus. Dabei fährt er weder aufs Meer hinaus noch sitzt er stundenlang am Seeufer. Er benötigt auch kein Anglerzubehör. Ihm reicht ein PC mit Netz-Zugang. Der promovierte Sprachwissenschaftler fischt Neuwort für Neuwort aus digitalisierten Zeitungsseiten. Seine täglichen Fang-Ergebnisse präsentiert er seit dem Jahr 2000 auf www.wortwarte.de. Nachdem Wiltrud Anne Kathrein Zweigler sich in der Wortwarte verfangen hatte, sprach sie mit dem Linguisten an seinem Arbeitsplatz in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt, mitten in Berlin.

nd: Eine Wetterwarte sammelt Daten über Wind, Regen, Sonne und Temperatur. Da haben Sie es mit der Wortwarte einfacher: Sie suchen nur neue Wörter.
Lemnitzer: Wetter ist jeden Tag, und immer ist es ein bisschen anders. Und ich kann ohne zu übertreiben sagen, dass auch jeden Tag neue Wörter gebildet werden. Das Interesse an einer systematischen Sammlung von Neuwörtern kam bei mir auf, als ich an einer Reihe zweisprachiger Wörterbücher für einen kleinen niederländischen Verlag arbeitete. Deren deutsche Substanz erschien mir seltsam altbacken und aus der Zeit gefallen. In dieser Zeit kamen auch die großen Textsammlungen, Korpora genannt, in Mode - jedenfalls in der Sprachwissenschaft und der Computerlinguistik. Ein Kollege von mir, damals schon an der Universität Tübingen, bastelte mir ein Programm, mit dem ich neue Wörter fischen konnte. Das klappte erstaunlich gut: Neue Wörter sind mir auch heute, nach gut 12 Jahren Betrieb, noch nicht ausgegangen. Seit September 2000 habe ich 50.000 gesammelt, und das sind nur die wirklich interessanten. Mein Dank dafür geht an alle kreativen Sprecher des Deutschen.

Schätzungen zufolge umfasst die deutsche Standardsprache 300.000 bis 500.000 Wörter. Genug, möchte man meinen, um sich gut verständlich zu machen und andere auch zu verstehen. Woher kommen all die neuen Wörter?
Neue Dinge und Sachverhalte müssen benannt werden. Für die Brüder Grimm war zum Beispiel das Wort „Eisenbahn“ neu, weil es ein solches Verkehrsmittel bis dahin nicht gegeben hat. Neu für uns waren irgendwann auch „Staubsauger“, „faxen“ und „Dancefloor“. Und relativ neu sind immer noch „simsen“, „Finanztransaktionssteuer“, „Solartankstelle“, „chatten“, „Fiskalklippe“. Deshalb trifft man diese Begriffe in Texten auch oft noch in Gänsefüsschen oder mit dem Zusatz ‚so genannte…..’oder ‚auf neudeutsch…’. Der Nutzer dieser Wörter hat noch eine gewisse Distanz zu ihnen. Irgendwann sind sie entweder gebräuchlich oder verschwunden. Letzteres trifft vor allem auf die Eintagsfliegen zu, der Linguist sagt: Gelegenheitsbildungen. Dazu gehören „Abstinenzkunst“, „Wechslerstudie“ und „Seitenhopper“. 80 bis 90 Prozent meiner Funde ordne ich dieser Kategorie zu. Der Rest könnte irgendwann in den Neuauflagen des Duden und im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache auftauchen.

Welchen Wörtern haben Sie in den letzten Jahren zu dieser „Karriere“ verholfen?
Richtig ist, dass ich durch meine dokumentarische Arbeit auf neue Wörter aufmerksam mache. Denn ob ein Wort ins Wörterbuch kommt, entscheiden weder ich noch ein wissenschaftliches Gremium, sondern allein die Sprecher. Ich behaupte, dass sie sich dessen gar nicht bewusst sind. Gerade deshalb agieren sie sehr einfallsreich und sind unbestechlich. Nehmen Sie den Ausdruck „sitt“, der bedeuten soll, dass man nicht mehr durstig ist - parallel zu „satt“. „Sitt“ hat sich nicht durchgesetzt. Ich bezweifle auch, dass sich „Kinderbasisgeld“, und „Seitenhopper“, beide belegt am 6. Februar 2013, durchsetzen werden. Erwarten Sie aber bitte keine weiteren Vorhersagen. Unsere Sprache ist stetig im Fluss, verändert sich unentwegt. Wir können nur beobachten, ob ein Wort über längere Zeit immer wieder verwendet wird oder eben nicht. Hat es sich im Sprachschatz etabliert, wird es auf die Liste für den Eintrag ins Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache beziehungsweise in den Duden gesetzt. Das Verb „simsen“ hat sich etwa 2002 - nach ersten Belegen in der Tagespresse, vor allem in der Bildzeitung, im Jahr 2000 - etabliert und steht seit 2006 im Rechtschreib-Duden, 24. Auflage. Ähnliche Karrieren lassen sich von „Dosenpfand“ und „Weblog“ berichten, die beide erstmals in der 24. Auflage des Rechtschreibduden gebucht wurden.

Wie muss ein Wort beschaffen sein, damit es für Sie interessant ist?
Wenn es mich fremd anguckt, zum Beispiel bei Hybridbildungen wie »Downloadmusik«, dann fische ich es heraus. Auch witzige Wortbildungen interessieren mich, obwohl die meisten davon Gelegenheitsbildungen sind, zum Beispiel „vorglühen“, was die meist alkoholische Vorbereitung auf eine Party bezeichnet. Darüber hinaus gehe ich ganz pragmatisch vor: Worte sind Werkzeuge, um etwas auszudrücken. Die Botschaft sollte so kurz wie möglich sein, damit der Empfänger, der sie verstehen soll, sie auch versteht - zum Beispiel ist „funzen“ kürzer als „funktionieren“, und der webaffine Leser, an den das Wort sich richtet, versteht, was gemeint ist. Wichtig ist, dass ein Wort von allen anderen unterschieden einen klaren Platz im Gebilde des Wortschatzes hat - Wörter wie »Werkzeug« und »Tool« oder »Kind« und »Kid« bezeichnen zwar im Kern das Gleiche, sie werden aber in anderen Kreisen - Handwerker versus Informationstechniker - oder auf anderen Stilebenen - Standardsprache versus Umgangssprache - verwendet. Keines dieser Wörter ersetzt das andere. Neue Wörter, ganz gleich, ob sie wirklich neu sind oder nur neu in der Alltagssprache verwendet werden, bereichern unsere Ausdrucksmöglichkeiten. Aber: Ein neues Wort muss auch eine bestimme Schöpfungshöhe haben.

Wie messen Sie Schöpfungshöhe?
Mittels meines Sprachgefühls. Ich wähle täglich aus ca. 2.000 bis 3.000 Wörtern im Durchschnitt 12 aus. Da kann man wirklich wählerisch sein.

In der Wortwarte las ich kürzlich „Regelaltersrentner“. Der Begriff ist im Sozialversicherungsrecht überhaupt nicht neu.
So etwas passiert in dem Moment, da Sachverhalte aus einer Fachsprache zum allgemeinen Interesse aufsteigen - in diesem Fall die intensive Diskussion über Renten - und in den Medien vermehrt auftauchen.

Wenn ich morgens zum Bäcker an der Ecke gehe, um mir einen Kaffee zu holen, fragt mich die Verkäuferin: „zum Mit“ oder „zum Hier“? Fallen diese Ausdrücke unter Wortneubildungen?
Nein, eher unter die Überschrift „Sprachökonomie“. Was zu lang, zu umständlich, schwierig zu sprechen ist, wird quasi passend gemacht, denn die Sprecher sind nicht nur einfallsreich, sondern auch bequem. Es könnte auch heißen „Möchten Sie den Kaffee mitnehmen oder hier trinken“. Das dauert viel zu lange. Außerdem muss die Verkäuferin das ständig fragen.

Viele Zeitgenossen kritisieren, dass sich englische Begriffe in unserer Sprache ausbreiten. Manche sorgen sich, dass irgendwann von Deutsch nicht mehr viel übrigbleibt.
Mit den Daten aus der Wortwarte lässt sich der angeblich übergroße Einfluss des Englischen nicht belegen. Nehmen Sie das bereits erwähne Wort „Kid“. Es existiert nicht anstatt, sondern zusätzlich zum Wort „Kind“. Im Englischen gibt es neben „kid“ auch noch „child“. Während wir „Kid“ mehr umgangssprachlich verwenden, ist „Kind“ eher offiziell. Das eine kann das andere nicht ersetzen. Es geht hier um Nuancierung, um einen präziseren Ausdruck. Um es mit Goethe zu sagen: ‚Ich verfluche alle negativen Purismen, dass man ein Wort nicht brauchen soll, in welchem eine andere Sprache Vieles oder Zarteres gefasst hat.’ Schon immer hat das Deutsche Wörter aus anderen Sprachen übernommen. „Nase“ und „Fenster“ sind dem Lateinischen entlehnt, „Sudoku“ dem Japanischen. Ebenso gab es schon immer Bestrebungen, die deutsche Sprache ‚rein’ zu halten. Doch warum soll man sich gegen neue Wörter wehren? Nur, weil sie nicht die alten sind? Jeder kann für sich selber beschließen, das eine oder das andere Wort zu verwenden oder auch nicht. Die Gesamtheit der Sprecher lässt sich ihre Wortwahl nicht vorschreiben. Oder würden Sie zu Ihrem Laptop ‚Klapprechner’ und zu Fastfood ‚Eilmampf’ sagen wollen? Allerdings leugne ich nicht, dass manche Institutionen und Sprecher sich allzu sehr an das Englische anbiedern. Das wirkt dann peinlich wie Kampagnen der Deutschen Bahn - „Infopoint“, „Call a bike“ - oder auch der „Coffee to go“, der nicht nur mich, sondern auch viele englische Muttersprachler verwirrt und belustigt.

Die meisten neuen Wörter sind vermutlich Substantive. Wann ist Ihnen zuletzt ein Verb ins Netz gegangen?
Das ist noch nicht so lange her: Es war das Wort „bildergoogeln“. Sie finden es in der Wortwarte unter dem Datum des 30. Januar 2013, oder auch „cubblen“ unter dem Datum des 17. Januar 2013. Aber Sie haben Recht. Das Gros der Neuwörter sind Zusammensetzungen aus unabhängigen Wörtern und wird Komposition genannt. Das Deutsche ist berühmt für seine Kompositionsfähigkeit: Telekommunikationsvorratsdatenspeicherung, Finanztransaktionssteuer oder Ultra-High-Definition-Qualität seien hier genannt. Der Kitt, um die Lücke oder die Fuge zwischen den Wörtern zu verschmieren und das Sprechen zu erleichtern, ist im ersten Fall das ‚s’, deshalb auch Fugen-s genannt. Eine andere Methode, die Sie im dritten Beispiel sehen, ist die Verwendung von Kopplungsbindestrichen. Außerdem können neue Wörter gebildet werden durch Suffixe - wie „-ung“ - oder Präfixe wie „ver-“. Jeder kann in den Baukasten der Sprache greifen und neue Wörter kreieren.

Genau das tut Sascha Lobo, freier Autor bei Spiegel online, und zwar auf sehr unterhaltsame Weise. Den bekannten „Einschlafstörungen“ setzt er die „Aufstehstörungen“ an die Seite. Die Tatsache, dass viele Leute sich keinen Namen merken können, nennt er in Anlehnung an Amnesie „Namnesie“. Welche Chance haben solche Wortbildungen, eines Tages im Duden zu stehen?
Eine geringe, vermute ich. Es sei denn, die Sprechergemeinde nimmt sich ihrer an. Ich glaube aber nicht, dass Lobo es mit seinen Kreationen in den Duden bringen will. Die Beschäftigung mit Sprache schult das Assoziationsvermögen und die Phantasie und ist immer lehrreich. Das trifft auf Schreiber, Leser und Sprecher gleichermaßen zu. Und es kann großen Spaß machen.

Viele Schulkinder haben Schwierigkeiten, Texte zu verstehen, weil sie manche Wörter einfach nicht kennen. Und jetzt kommen auch noch ständig neue dazu….
Der Sprachschatz wird durch die Lebenswirklichkeit geprägt. Kinder, die in der Stadt aufwachsen, haben andere Wörter zu Verfügung als Kinder, die auf dem Lande leben. Wer mit der jeweils anderen Lebenswirklichkeit nichts zu tun hat, der kennt die entsprechenden Wörter eben nicht. Deshalb sollten Kinder auf andere Art und Weise mit ihnen unbekannten Wirklichkeiten in Berührung kommen: durch Geschichtenerzählen, Vorlesen, Selber-Lesen, Museumsbesuche etc..

Welches Neuwort halten Sie für besonders gelungen, und seit wann verfolgen sie seine Entwicklung?
»Simsen« ist schon ein gutes Beispiel. Es ist eines der wenigen Wörter, die nicht zusammengesetzt sind. Es verkürzt das „eine SMS schicken“ in einer Weise, dass das Wort aussprechbar ist - eigentlich müsste es ja „smsen“ heißen. Ein anderer Favorit von mir ist „deukisch“ als Selbstbezeichnung von deutsch-türkischen Jugendlichen. Da auch deren Identität, wie das Wort, eine Überblendung aus zwei kulturellen Bereichen ist, hat dieses Wort eine ikonische Qualität. Ich verfolge die Entwicklung keines Wortes im Besonderen, sondern die Entwicklung des Wortschatzes im Allgemeinen.

Ist Ihnen beim Scrabble-Spielen schon einmal ein Neologismus gelungen?
Als Wortforscher und Lexikograph bin ich kein begehrter Scrabble-Partner, und wirklich: in meiner freien Zeit spiele ich dann doch lieber »Mensch-ärgere-dich-nicht«.


Zum Eintauchen in den Fluss der Sprache:

Lemnitzer, Lothar: Von Aldianer bis Zauselquote. Neue deutsche Wörter. Wo sie herkommen und wofür wir sie brauchen

Lemnitzer, Lothar: Duden - Hirndiebstahl im Sparadies: Was so (noch) nicht im Duden steht