Tänzerischer Fries um Liebe und Leben

Multimedial an den Landesbühnen Sachsen: »Carmina Burana«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Zahl der choreografischen, szenischen Umsetzungen ist Legion. Seit Carl Orff aus den anfangs des 19. Jahrhunderts im oberbayerischen Kloster Benediktbeuren aufgespürten 254 Texten zu mittelalterlichen Liedern zwei Dutzend die Ehre gab, sie in einem einzigen Schaffensrausch zu vertonen, haben ihm die Choreografen seine Partitur beinah aus der Hand gerissen. Der Weltpremiere 1937 folgten zahllose Inszenierungen bedeutender Tanzmacher.

Reiner Feistel hält sich in der Version für die Landesbühnen Sachsen an das, was damals Michel Hofmann schrieb, als er mit Orff die Textauswahl traf: Keine Theater-, einzig eine sinnlich vertiefende Raumwirkung sei beabsichtigt, keine Handlung, »höchstens ein bildhaftes Symbol« der in der Musik einbeschlossenen Idee. Folglich erzählt Feistel weder eine Geschichte noch bebildert er Liedinhalte. Um tänzerische Korrespondenz mit der Wucht der Chöre, der Kraft des musikalischen Universums geht es ihm. Sein Problem: Klein ist die Radebeuler Bühne, nur 12 Tänzer zählt seine Compagnie. Der Ausweg: eine »Carmina Burana« als multimediales Spektakel. Videoaufnahmen begleiten das Geschehen.

Der 70-minütige Abend beginnt, als würde ein Computer eingeschaltet: Zu Brummen ein Streifenmuster auf der Gaze, Probenstudien erweitern sich zum Vollbild, das stoppt und transparent wird. Live-Tanz setzt ein, die Gaze hebt sich. In Stefanie Krimmels wohltuend stilisierten Kostümen, Hose und Bolero für die Männer, Top und gestuft schwingendem Rock für die Frauen, alles in Naturtönen, entwirft Feistel einen tänzerischen Fries um Liebe, Lebensfreude, Sinnenlust. An konkreten Figuren braucht es nur die paarstiftende Fortuna, die hier ein Mann ist und in Radebeuls Neuzugang Norbert Matkovics einen so präsenten wie potenten Interpreten hat. Weiter ein Paar, das es zu fügen gilt. Frauen und Männer grundieren diesen Vorgang, der bisweilen wie ein zeitgenössisches Frühlingsritual anmutet, und werden selbst in den Strudel der Emotionen hineingerissen. Aus der Marionette, die Fortuna erst noch bereit macht, wird Till Geier, der sensible Blonde, der fast magisch Judith Speckmaier mit ihrem wehenden Schwarzschopf anzieht.

Was das Paar an Gefühlen durchlebt; wie Geschlechter zusammenprallen, die Frauen sich kokett geben, dann einfach all die schüchternen Männer packen; wie schließlich Isabel Dohmhardt als Botticellis leuchtend lichte Primavera anmutig über das Treiben wacht, die Paare in erotische Rage bringt, das gerät zum mitreißenden Hymnus aufs Leben. Übergroß schwebt am Ende der Frühlingsengel im Video über der Szene, dankbar heben die Paare den Blick. Es sind mehrere Zutaten, die jenen Reigen vom Weben und Wirken des Naturhaften im Menschen so sehr bekömmlich machen. Zuvörderst Feistels unangestrengt moderne, harmonisch runde, erfindungsreiche Bewegungssprache, mit Sinn auch für augenzwinkernd heitere Momente, wie die Geschlechter eben so funktionieren. Dann Michael Keils vielfältiger Videoeinsatz aus oft mehrteiligen Tableaux, gerahmten Bildern, verlangsamten Sequenzen. Und freilich eine ambitionierte Tänzercrew mit Spaß an der Form wie an der Botschaft.

Nach fast 16 Jahren in Radebeul, 35 gesamt in Dresden soll Reiner Feistel ab neuer Spielzeit dem maroden Chemnitzer Ballett aufhelfen. Dort erwartet ihn die missliche Situation, den vom scheidenden Intendanten noch rasch um zwei Jahre verlängerten Ballettchef neben sich zu wissen. Es bleibt zu hoffen, dass alle Beteiligten zu einem menschlichen Miteinander finden: zum Wohl einer teils neu zu formenden, dann wieder künstlerisch schlagkräftigen Compagnie.

Nächste Vorstellungen in Meißen: 13.4., in Radebeul: 14.4., 9. und 19.5., in Hoyerswerda: 29.5.

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