Ohne Worte

»Mauermenschen« im Circus Schatzinsel

  • Anouk Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Gerade eben haben sie noch miteinander getanzt, geschmust, Rad geschlagen und einen flotten Rock ’n’ Roll aufs Parkett gelegt. Doch nun ist plötzlich der Weg versperrt, das Zueinanderkommen verbaut durch eine Reihe Holzkisten, über die es keinen Weg zu geben scheint. Oder etwa doch?

Um Mauern jedweder Art geht es in der Zirkusrevue »Mauermenschen«, die das Junge Ensemble des Circus Schatzinsel aufführt - und zwar auf der Kreuzberger Spreeseite, direkt gegenüber der East Side Gallery.

Dieser geschichtsträchtige Standort an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze »birgt eine gewisse Verantwortung«, meint Projektleiterin Christine Kölbel, die als ehemalige DDR-Bürgerin die Mauer aus der Sicht des Ostens erlebte. Andere Mitarbeiter hatten das Bauwerk täglich von Kreuzberg aus vor Augen. Am May-Ayim-Ufer 4, wo auf einem geschützten Gelände das Zirkuszelt steht, außerdem noch Platz ist für ein flaches Gebäude mit Café und Büro und ein Freiluft-Amphitheater, probten Kinder und Jugendliche noch bis vor zwei Jahren für Cabuwazi, die das Zelt 2004 eröffneten. Nachdem der Standort wegen der Insolvenz wegfiel, übernahm der »Verein zur Überwindung der Schwerkraft« die Schatzinsel - mit Erfolg: Viele der Mitarbeiter sowie fast alle Kinder und Jugendlichen blieben.

Für die »Mauermenschen«-Inszenierung setzen Projektleiterin Kölbel und die Regisseure Anja Häusser und Joachim Scheffler auf Akteure zwischen 19 und 25 Jahren; die Hälfte macht schon seit Jahren im Zirkus mit, die andere Hälfte stieß neu zum Jungen Ensemble. Der Anteil an Akrobatik ist deshalb geringer als bei anderen Stücken, was aber durch Tanz, Performance und Live-Musik ausgeglichen wird. Im Vorfeld bekam jeder der Mitspieler einen Zeitzeugen als Paten zur Seite gestellt, der aus seiner Sicht über die Erfahrung mit der deutsch-deutschen Mauer berichtete. In einigen Fällen stammte der Zeitzeuge aus der eigenen Familie: So war die Mutter mit einem der Mitspieler schwanger, als sie und ihr Mann 1989 über Ungarn flüchteten; ein anderer hat erfahren, dass ein Familienmitglied jahrelang als IM die anderen bespitzelt hatte. Geschichten wie diese - Fluchtversuche, Schikane durch übereifriges Grenzpersonal, auch das traurige Schicksal eines kleinen türkischen Jungen, der auf Kreuzberger Seite ins Wasser fiel und nicht vorm Ertrinken gerettet werden durfte - setzt das Stück auf sensibel-poetische Weise um.

Dabei waren die jungen Leute erst mal nicht begeistert vom Thema Mauer, wollten lieber ihre eigenen Geschichten erzählen. Doch eine Diskussion über die unsichtbaren Mauern, die unsere Gesellschaft und das Miteinander darin ausmachen, stimmte die Jugendlichen um. Und so entstand eine Inszenierung, die beides thematisiert: Schicksale vor und hinter der deutsch-deutschen Mauer ebenso wie den Zwang zu Anpassung, Ehrgeiz und Karriere, der das Leben der jungen Leute heute bestimmt, dazu alltägliche Stadterlebnisse aus U-Bahn und Job. Das Ganze ohne Worte erzählt, mit Gesten, Bewegungen, Tanz und Musik, die mal vom Band kommt, mal live per Didgeridoo und Geige, Klarinette und Gitarre erzählt wird. Und mit einem äußerst gelungenen Bühnenbild aus 15 großen Holzkisten, die immer wieder umgebaut werden und so vom U-Bahnwaggon zur Fabrik, vom Wachturm zur Mauer mutieren.

wieder 19.-21.4., 19 Uhr; Circus Schatzinsel, May-Ayim-Ufer 4,Karten unter 030/22 50 24 61 oder www.vuesch.org/schatzinsel

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