Orbán weist an

Antisemitische Hetze und ihr Gegenteil - auf Ungarisch

  • Gábor Kerényi, Budapest
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Marsch der Lebenden, der am Sonntag in Ungarn stattfand, ist der Erinnerung an die Opfer des Holocaust gewidmet. Das Land wäre indes nicht Ungarn, wenn eine Veranstaltung dieser Art nicht von Komplikationen begleitet wäre.

Eine antisemitische Vereinigung, die sich »Goj-Biker« nennt (Goj heißt auf Jiddisch: Nichtjude), hatte ausgerechnet für den Tag des Gedenkens an die ermordeten ungarischen Juden einen Motorradkorso angekündigt, der auch an der größten Budapester Synagoge vorbeiziehen sollte. Das Motto der antisemitischen Aktion: »Gib Gas!«

Die Demonstration wurde von der Polizei zunächst bedenkenlos bewilligt. Im ungarischen Parlament aber stellte die Sozialist Pál Steiner schon vor rund zwei Wochen die Frage, wie es möglich sei, dass eine »erklärtermaßen antisemitische Organisation« die Erinnerung an über 400 000 ermordete ungarische Juden und sechs Millionen Opfer, die in Todeslagern vergast oder auf andere Weise umgebracht wurden, auf diese Weise schänden dürfe. Wieso sei »diese Provokation vom Budapester Polizeipräsidium, das dem ungarischen Innenministerium untersteht, bewilligt worden«?

Ministerpräsident Viktor Orbán, sonst um doppelzüngige Ausreden nicht verlegen, entschied daraufhin: Die körperliche Unversehrtheit der Teilnehmer des Marsches der Lebenden werde mit »allen Mitteln« gesichert. Er weise seinen Innenminister an, die Bewilligung für den Korso der »Goj-Biker« zurückzuziehen. Und so geschah es noch am selben Tag.

Damit war die Geschichte nicht abgeschlossen. Die »Goj-Biker« fochten das Verbot vor Gericht an. Ihr Antrag wurde aber abgelehnt. Daraufhin meldeten die »Motorsportfreunde mit nationaler Gesinnung« eine neue Demonstration auf einer anderen Route an, abermals für den 21. April. Die wurde von der Polizei wiederum genehmigt. Woraufhin sich Pál Steiner im Parlament abermals zu Wort meldete und - kurz gesagt - fragte, was das solle.

Es war vielleicht kein Zufall, dass Orbán das Parlament diesmal nicht mit seiner Gegenwart beehrte. Offenkundig hatte er inzwischen zum gewohnten Zynismus zurückgefunden, jedenfalls ließ er seinen Pressechef schlicht mitteilen: »Immer mit der Ruhe, die Regierung weiß, was sie zu tun hat.« Und siehe da, die Polizei verbot nun auch den zweiten zunächst genehmigten Aufmarsch mit einem »rechtskräftigen Bescheid«.

Die Botschaft für die ungarische Rechte ist allerdings eben dieses Pingpong, das Spiel mit dem Antisemitismus. Das verstanden auch die »Goj-Biker« und hielten trotz Verbot eine kleinere Veranstaltung ab - nicht am Nachmittag, als der Marsch der Lebenden stattfand, sondern am Vormittag, und nicht in der Nähe der Synagoge. Der Chef der Motorradgang erklärte in einer kurzen Rede, man verzichte diesmal auf eine Gegendemonstration, sondern vertrete lediglich die Interessen Hunderttausender ungarischer Devisenschuldner. Die Behörden gaben sich zufrieden, der Marsch der Lebenden wurde »nur« von obszönen israelfeindlichen Plakaten begleitet, die etwa 10 000 Teilnehmer blieben von physischen Übergriffen verschont.

Rein rechtlich betrachtet, war die Komödie, die Orbán, sein Innenminister und die ungarische Polizei anlässlich des Holocaust-Gedenkens geliefert hatten, eine Farce. Erstens kann der Ministerpräsident den Innenminister laut Gesetz nicht anweisen, Veranstaltungen zu verbieten. Und der Innenminister kann der Polizei nicht je nach Laune befehlen, einen solchen Aufmarsch zu bewilligen oder nicht zu bewilligen - zumal wenn die Genehmigung schon einmal erteilt wurde. Andersherum: Wenn es doch eine Rechtsauslegung gibt, die all dies rechtfertigt, dann ist völlig unklar, wieso diese Möglichkeit im Falle einer ähnlichen Versammlung der Nachfolgeorganisation der verbotenen Ungarischen Garde im Vorjahr nicht angewendet wurde.

Aber was soll’s. Absolutistische Herrschaft hat auch ihre Vorteile, denn schließlich siegte in Ungarn wieder einmal die gute Sache über die fade und lästige Gesetzlichkeit.

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