nd-aktuell.de / 25.04.2013 / Kultur / Seite 10

Der Blues des Lebens

»Broken Circle« von Felix Van Groeningen

Caroline M. Buck

Ihren ersten Schultag erlebt Maybelle noch, dann beginnt das Zahnfleischbluten. Das vorher springlebendige Kind ist plötzlich dauernd müde, die Arme voller blauer Flecken. Kein Fall von Missbrauch, sondern von Schicksal. Maybelle hat Krebs, die Chemo schlägt nicht an, und einen Versuch der Stammzellenübertragung von einem familienfremden Spender wird sie nicht überleben. Nach einer Dreiviertelstunde Film ist Maybelle tot und wird im strömenden Regen zu Grabe getragen. Für ihre Eltern geht das Leben weiter. Irgendwie.

»The Broken Circle« aber ist nicht linear erzählt, sondern fängt mit dem Schock an und arbeitet sich von dort zurück. Bis vor die Zeit von Maybelles Zeugung, bis zur ersten Begegnung ihrer Eltern und in die überschwänglichen Tage einer jungen Liebe mit ungeplanter Schwangerschaft und erst zögerlicher aber dann doch begeisterter Elternschaft. Der Zuschauer erlebt den ultimativen Verlust im Wechsel mit dem langsamen Entstehen. Und weil Maybelles Eltern Musiker sind in einer Bluegrass-Band - Banjo-Spieler er, Sängerin sie - ist jede der frühen, glücklichen sowie der späteren, leidvollen Szenen mit Musik unterlegt und davon vorangetrieben.

Nach Maybelles Tod fangen die Schuldzuweisungen an. Wurde sie krank, weil Krebs bei ihm ja in der Familie liegt? Oder hätte man das Kind doch lieber stillen sollen, weil Muttermilch die Abwehrkräfte stärkt? Ist die Mutter schuld, weil sie vielleicht nicht ordentlich genug war, nicht pingelig genug auf Sauberkeit bedacht, oder doch der Vater und seine Gene? Hätte man weniger feiern sollen in den frühen Zeiten, auf gar keinen Fall trinken in der frühen Schwangerschaft? Hat er das Kind überhaupt je gewollt, dessen Verlust sie beide jetzt in die Verzweiflung treibt? Kann man sich über den unerträglichen Verlust vielleicht hinwegtrösten, wenn man den Atheismus fahren lässt und versucht, an ein Leben nach dem Tod zu glauben, in dem der Vogel, der sich an der Scheibe totflog, zum Stern wird, wie sich Maybelle das so dachte? Und Maybelles Seele ihrerseits dann vielleicht in dem Vogel wiederkehrt, der sich neuerdings am Fenster sehen lässt? Weil sie mit ihrer unerträglichen Trauer sehr verschieden umgehen, entfremden sich auch Maybelles Eltern zusehends voneinander.

Es ist eine alte, eine traurige, eine hier noch einmal sehr schön erzählte, gefilmte und vertonte Geschichte, die der Flame Felix Van Groeningen in seinem Berlinale-Publikumslieblingsfilm erzählt. Eine Geschichte, die den Sinn von Leben und Tod streift, aber auch die sinnlosen Attentate vom 11. September mit den ersten Schritten eines Kindes verknüpft, von dem der Zuschauer da schon weiß, dass es nicht viele Schritte machen wird.