Kurzer Sommer der Kapitalismuskritik
Die Eurokrise hält die um die deutsche Wirtschaft besorgte Politik im Bann - auch die am Keynesianismus orientierten Linken. Angesichts des 2013 erwarteten Rückgangs des Bruttoinlandprodukts in der Eurozone zeigte sich der Chefvolkswirt der LINKEN, Michael Schlecht, sehr beunruhigt. »Wer jetzt nicht dafür sorgt, dass die Löhne kräftig steigen, gefährdet auch noch den letzten Stabilitätsanker der deutschen Wirtschaft. Das blinde Vertrauen in die positive Entwicklung der Exporte muss endlich einem gesunden Realismus weichen«, so Schlecht.
Die zitierte Pressemitteilung macht ein Grundproblem des Keynesianismus deutlich. Er sorgt sich, genauso wie die neoliberalen Kräfte und Unternehmensverbände, vor allem um Kapitalakkumulation und profitable Investitionen.
Als Kapitalismuskritiker kann man nichts gegen höhere Löhne haben. Nur: Sie sind in der keynesianistischen Perspektive und auch bei Schlecht nicht das eigentliche Ziel - ebenso wenig ein politischer Kniff, um aus dem kapitalistischen Wahnsinn einen Ausweg zu finden. Ganz im Gegenteil, sie sind das Mittel, Wirtschaftswachstum in Deutschland zu befördern: Wegbrechende Absatzmärkte im Ausland bedeuten einbrechende Profite für deutsche Unternehmen. Schlechte Gewinnerwartungen führen zu einem Rückgang von Investitionen, einer sinkenden Nachfrage nach Arbeitskräften folgt eine steigende Arbeitslosigkeit.
John Maynard Keynes erkannte, dass der Lohn nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch ein Teil der gesellschaftlichen Nachfrage ist, die das Produktionsvolumen und damit auch den Beschäftigungsstand tangiert. Setzen sich Löhne in Konsum um, wird das Kapital seine Waren los. Auch der Staat soll anlagesuchendes Kapital durch Kreditaufnahme (Staatsanleihen bringen Zinsen) in gesellschaftliche Nachfrage »übersetzen«. Das ist auch der zentrale Grund, warum Keynes‘ Theorie zur Software der (linken) Sozialdemokratie geworden ist: Lohnabhängige können die Verbesserung ihrer Lebensqualität einfordern, ohne dass ihre Interessen an höheren Löhnen oder dem Ausbau öffentlicher Dienstleitungen sofort in einen Widerspruch zum Profitstreben des Kapitals geraten.
Kapitalismuskritik sieht anders aus. Mit Keynes kann man in politischen Auseinandersetzungen gerade so lange etwas bewegen, wie es nicht um die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse geht. Aber genau darum sollte es gehen.
Die schwerste Krise des Kapitalismus seit Jahrzehnten war nicht nur Anlass für tief greifende Verunsicherung innerhalb der politischen Klasse und bei vielen Ökonomen, sondern auch die Sternstunde der Besserwisser. Während das bürgerliche Feuilleton plötzlich wieder Karl Marx entdeckte, standen die linken Keynesianer schnell mit Vorschlägen zur »Fehlerbehebung« auf der Matte, statt das Zeitfenster der Krise zu nutzen, um den Kapitalismus zu kritisieren.
Keynes politische Perspektive war eine »umfassende Verstaatlichung der Investitionen«, die die Macht der Gläubiger zerstören sollte. Hohe Zinseinkommen sollten nicht mehr möglich sein. Allerdings bei gleichzeitiger Beibehaltung von Privateigentum, Märkten, Anreizstrukturen (durch Konkurrenz und Ungleichheit), Unternehmertum und des Zwangs, die Arbeitskraft als Ware zu verkaufen - wenn auch unter verbesserten Bedingungen (unter anderem einer radikalen Arbeitszeitverkürzung).
An einer Stelle spricht Keynes von einem »quasi-statischen Gemeinwesen«. Er will die kapitalistische Produktionsweise beibehalten, jedoch ohne die ärgerlichen Beilagen und den Zwang zu Profit. Das ist genau so unmöglich, wie mit einem Plädoyer für höhere Löhne den dem Kapitalverhältnis immanenten Widerspruch aufzulösen, dass der Lohn zwar Nachfrage, aber eben immer auch Kosten ist.
Keynesianer sind jedoch einem weiteren Dilemma ausgesetzt: Sie können nur Lohnerhöhungen verantworten, die sich an der Produktivität orientieren. Zu hohe Löhne führen ihnen zufolge zu Inflation und dazu, dass die Investitionsdynamik nachlässt. Deshalb wird auch von keynesianischer Seite im Namen einer »gesamtwirtschaftlichen Verantwortung« zu Lohnzurückhaltung angehalten. Die Firma dankt.
Der Keynesianismus ist nichts anderes als das schlechte Gewissen des Kapitalismus, das Über-Ich der Bourgeoisie, das beständig mit der destruktiven Natur des Kapitals und der Profitlogik kollidiert. Statt aber die Lohnabhängigen mit hohen Löhnen und einer anderen Wirtschaftspolitik mit Wirtschaftswachstum zu versöhnen, die immer Lohnabhängigkeit und Profitlogik festschreibt, sollte eine breite gesellschaftliche Debatte darüber begonnen werden, wie jenseits von Staat und Profitlogik, Kapital und Lohnarbeit gesellschaftliche Reproduktion aussehen könnte.
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