Ältere Ostler im Heim

Johann Kresnik inszenierte »Villa Verdi« an der Berliner Volksbühne

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Alexanderplatz eine Freilichtbühne. Genau richtig zur Einstimmung auf das zu erwartende schrägbunte Spektakel: im 50-Meter-Abstand ein markerschütternder Dudelsackspieler im stilechten Kilt, zwei voluminös samttönige Alphornbläser und ein kleiner Trompeter, auch nicht zu überhören. Dann ein kurzer Fußweg und alsbald entfaltete die Volksbühne ein heiteres Frühlingsabend-Entree über Tresen und Treppen hinaus auf die Wiese vor dem Haus. Das Publikum ist volksbühnenuntypisch, ein Klassentreffen fortgeschrittener Jahrgänge; wenig Jugend, mehr hohes Mittelalter und erstaunlich viele hochbetagte Theatergänger. Die gemeinsame Grundstimmung: gespannte heitere Erwartung, nostalgische Neugier, präziser noch: Ost-nostalgische Erinnerungslust mit dem alten Appetit auf große weite Welt.

Der Besetzungszettel, genauer die Liste der Bewohner der »Villa Verdi«: Hildegard Alex, Annekathrin Bürger, Jochen Kowalski, Harald Warmbrunn, die Sängerin Jutta Vulpius gar, Roland Renner, Ilse Ritter - was für Namen aus welchen Zeiten. Als Heimbewohner heißen sie Johanna Edel, Maria Janson oder Hans Borowski; unwichtige Bezeichnungen.

Die »Villa Verdi« in Johann Kresniks (Regie) und Christoph Klimkes (Libretto) neuer Volksbühnen-Produktion hat zwei reale Vorbilder: die »Casa Verdi« in Mailand und das Marie-Seebach-Stift in Weimar. Beides sind Heime für alternde und in Not geratene Bühnenkünstler. In der »Casa Verdi« drehte Daniel Schmid seinen der Volksbühnenproduktion zugrunde liegenden Film »Il Bacio di Tosca«, in dem Sänger und Musiker aus früheren Glanzzeiten berichten.

Die »Villa Verdi« hat ihre besten Tage hinter sich. Ein Vestibül mit bemaltem Oberlicht-Glasdach, ein repräsentatives Treppenhaus mit Verdi-Bild und -Büste machen noch immer einiges her. Aber die Bewohner zittern um die weitere Subventionierung. Das lenkt von den Proben zur diesjährigen Gala ab. Und dabei müssen sie doch alles geben; nur mit ihrer Kunst glauben sie die Lokalpolitiker überzeugen zu können. Die Demo mit dem roten »Verdi«-Transparent macht nicht so viel her. Dafür wird erst mal agitiert, dass es nur so kracht. Die gesetzmäßig gewissenlosen Finanzjongleure im Kapitalismus, Stalin und Schostakowitsch, der wegen Homosexualität zum Selbstmord getriebene Tschaikowski und selbstverständlich Wagner, der Antisemit, alle kommen dran. Aber Kresnik lässt die Szene vorübergehen: Hier gilt’s der Kunst.

Zuerst der Chor mit führendem Tenor Manfred Maier. Wer sein markantes Profil nicht kennt, erlebte nie den Extrachor der Berliner Lindenoper. Alle singen den Gefangenenchor aus »Nabucco«, dann das Trinklied aus »La Traviata«. Auftritt Manfred Maier und Auftritt der Legende Jutta Vulpius, lyrischer Sopran. Sie sang alles in ihrem Fach, sie war der Star der Komischen Oper, der Staatsoper.

Dann will keiner mehr Verdi, und mit Wagner wittert die Jugend ihre Chance. Sarah Behrendt als einzige junge, allerdings beinlose Heiminsassin singt die »Hallenarie« aus dem »Tannhäuser«.

Endlich revoltieren die Schauspieler. Zu viel Musik. Annekathrin Bürger singt jetzt nur noch politische Chansons - was sie später auch sehr anrührend tut -, ihre Glanzzeiten aber hatte sie als Desdemona. Roland Renner, der als einzige Partie den Rigoletto sang, beklagt, dass es keinen richtigen Jago mehr gebe. Harald Warmbrunn und Hildegard Alex schreiten zur Tat. Er ist Macbeth, sie seine Lady. Aber die Textlücken, das Alter. Warmbrunn sammelt Tabletten im Nachttischkasten, bald sind es genug. Und immer wieder Ilse Ritter: wie fragil sie Pelze trägt, wie unerschütterlich sie jahrelang die weltbeste Ophelia war, wie sie an den Händen friert, wie in Zürich alles besser war.

Zwischenzeitlich Kresniks nächster Coup. Ein Schrank wird hereingeschoben, die Tür öffnet sich, Bühne und Publikum hauchen es: »Kowalski!«. Er singt den Orlowski aus der »Fledermaus«, in Begleitung eines nackten Tänzerpaares die alte Gräfin aus »Pique Dame«. Seine Hauptrolle besteht aber in Divenverehrung. Talkshow: Gnädige Frau, ich habe alle Ihre Schallplatten gehört. Was für Zeiten bei Felsenstein. Auch viele Händel-Opern. Den Nationalpreis der DDR haben Sie bekommen. --- Und auf das N-Wort nichts von »Diktatur« und »Unrechtsstaat«? Dafür Beifall im Saal. Fast, ach beinahe ist das Theater wieder zum subversiven Ort geworden.

Kresnik hat noch ein paar Aktionen auf Lager. Zwei blutjunge Tänzer bieten pieksaubere klassische Gala-Einlagen. Die alte Tänzerin schleppt darauf eine Kreissäge herbei. Weg mit dem untauglichen Fuß. Das Bühnenblut spritzt, aber was soll’s, die Gala muss laufen. Noch ein paar Schmeckerchen für Publikum. Hildegard Alex und Jutta Vulpius mit Rossinis Katzenduett, König Lear ohne Text auf öder Heide, ausgerechnet Ilse Ritter - »Ritter, Dene, Voss« - mit: »Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze«, und noch einmal Jutta Vulpius, rührend die Arie der Gräfin aus »Figaro«. Die hohen Töne sitzen, gelernt ist gelernt. Beifall brandet und dann kracht die »Villa Verdi« ohrenbetäubend zusammen.

Ein Abend für Freunde von Zeitreisen durch mindestens doppelte Böden. Große Theaterkunst hatte Pause.

Nächste Vorstellung: 3.5.

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