Im Labyrinth der Justiz

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 3 Min.
Der in der vergangenen Woche nach nur ein paar Stunden vertagte Prozess gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und vier NSU-Helfer soll in dieser Woche fortgesetzt werden. »neues deutschland« kooperiert bei der Berichterstattung mit der linken türkischen Zeitung »Evrensel«. Kollege Yücel Özdemir wird in Kolumnen für »nd« über seine Beobachtungen und Eindrücke informieren.

Vor anderthalb Jahren kam heraus, dass hinter der Mordserie an neun Migranten und einer Polizistin der Nationalsozialistische Untergrund steckt. Der angekündigte Prozessbeginn am 17. April wurde wegen Verfahrensfehler bei der Akkreditierung auf den 6. Mai verschoben. Dann sorgten Befangenheitsanträge der Verteidiger für eine Vertagung auf den 14. Mai. Das heißt der »Jahrhundertprozess« steht noch immer in den Startlöchern.

Dabei waren meine Erwartungen andere, als ich als akkreditierter Korrespondent von »Evrensel« die Fahrt von Köln nach München antrat. Ich ging davon aus, dass mit der Verlesung der Anklageschrift begonnen würde. Doch es kam anders.

Der NSU-Prozess: Fakten und Hintergünde
 

Die Opfer

Zwischen 2000 und 2007 sollen die Mitglieder des «Nationalsozialistischen Untergrunds» (NSU) zehn Menschen umgebracht haben. Hinzu kamen zwei Sprengstoffanschläge mit insgesamt 23 Verletzten.

9. September 2000, Nürnberg: Der türkische Blumenhändler Enver Simsek (38) wird beim Arbeiten erschossen.
19. Januar 2001, Köln: In einem iranischen Lebensmittelgeschäft explodiert ein Sprengsatz. Die 19-jährige Tochter des Inhabers wird schwer verletzt.
13. Juni 2001, Nürnberg: Mundlos und Böhnhardt erschießen den Türken Abdurrahim Özüdogru (49) in seiner Änderungsschneiderei.
27. Juni 2001, Hamburg: Der türkische Händler Süleyman Tasköprü (31) stirbt durch mehrere Kopfschüsse in seinem Lebensmittelladen.
29. August 2001, München: Mundlos und Böhnhardt erschießen den türkischen Gemüsehändler Habil Kilic (38) in seinem Geschäft.
25. Februar 2004, Rostock: Die Rechtsterroristen töten den türkischen Imbissverkäufer Mehmet Turgut (25).
9. Juni 2004, Köln: Die Terroristen zünden eine Nagelbombe vor einem türkischen Friseursalon in der Keupstraße. 22 Menschen werden zum Teil lebensgefährlich verletzt.
9. Juni 2005, Nürnberg: Ismail Yasar (50) wird in seinem Döner-Imbiss getötet.
15. Juni 2005, München: Der Grieche Theodoros Boulgarides (41) stirbt durch drei Kopfschüsse in seinem Schlüsseldienst-Laden.
4. April 2006, Dortmund: Mundlos und Böhnhardt töten den türkischstämmigen Kioskbetreiber Mehmet Kubasik (39).
6. April 2006, Kassel: Halit Yozgat (21) stirbt durch Schüsse in seinem Internet-Café.
25. April 2007, Heilbronn: Die Polizistin Michèle Kiesewetter (22) wird erschossen, ihr Kollege (24) überlebt schwer verletzt.

Die Angeklagten

Neben Beate Zschäpe sitzen ab dem 6. Mai 2013 vier Männer auf der Anklagebank des Münchner Oberlandesgericht: Ralf Wohlleben, einer der führenden Neonazis und NPD-Funktionär in Thüringen. Er soll Beihilfe zu sechs Morden geleistet zu haben. André Eminger,dominierte in Johanngeorgenstadt Neonazi-Kameradschaften. Er sei verdächtig, bei der Produktion der Paulchen-Panther-Bekennervideos mitgeholfen zu haben. Holger Gerlach gehörte Anfang der 1990er Jahre zur »Kameradschaft Jena«. Er soll dem NSU unter anderem Führerschein und Reisepass besorgt haben. Carsten Schultze, einst Vizelandeschef der Jungen Nationaldemokraten, soll 2000 aus der rechten Szene ausgestiegen sein, vorher aber Wohlleben bei der Beschaffung einer Waffe geholfen haben.

Lesen Sie die Porträts der Angeklagten.

Die Berichterstattung in der Türkei

Acht der zehn Mordopfer des NSU kamen aus der Türkei. Von der Berichterstattung blieben türkische Medien trotzdem vorerst ausgespart. Für viele Türken ist das Urteil über den NSU-Prozess in München bereits gefällt. Und zwar gegenüber Personen, die gar nicht auf der Anklagebank sitzen: Die deutschen Sicherheitsbehörden sind in ihren Augen Teil des Problems um den Nationalsozialistischen Untergrund.

Jan Keetmann über die Wahrnehmung des NSU-Prozesses in der Türke

Das öffentliche Bild der Beate Zschäpe

Beate Zschäpe, die Normale. Beate Zschäpe, eine von uns? Immer neue Bilder der mutmaßlichen Terroristin kursieren in den Medien. Mal die schüchterne Sechzehnjährige, die verlegen in ihrem Haar spielt. Dann fast wie ein Hippie im Sommer der Liebe

NSU, ein Anagramm von uns? von Diego Castro.

 

 

Die Vertagung führte nicht nur bei den Opferfamilien, sondern auch bei meinen türkischen Kollegen zu tiefer Enttäuschung. Die taktischen Manöver der Verteidiger im Vorfeld und ihre Befangenheitsanträge am ersten Verhandlungstag lassen die Gefahr, dass dieser Prozess im Labyrinth der Justiz verschwindet, realistisch erscheinen.

Wie viele andere im Saal musste auch ich mit mir kämpfen, um meine Reaktion zu verbergen, als die Angeklagten den Gerichtssaal betraten. Mir standen die Haare zu Berge. Die Verunsicherung über die fehlende Reue der Angeklagten und deren Auftritt als »Verteidiger einer gerechten Sache« stand den Familienangehörigen ins Gesicht geschrieben. Eine Antwort auf die Frage, wie sie sich in diesem Moment fühlen mussten, suchte ich zunächst vergebens. Doch fand ich sie am Abend bei Gesprächen im türkischen Konsulat.

Ismail Yozgat, Vater des in Kassel ermordeten Halit Yozgat sagte: »Im Saal sah ich weder die Anwälte und Richter, noch die Pressevertreter. Ich sah nur die Mörder meines Sohnes.«

Elif Kubasik, die Ehefrau des Dortmunder Opfers Mehmet Kubasik, antwortete auf meine Frage, was sie gefühlt habe, als Zschäpe in den Saal kam: »Ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Es war mir so, als wollte sie sagen: ›Seht her, ich bereue nichts!‹ Ich wollte aber stark sein und unterdrückte meine Gefühle.«

Die Tochter von Ismail Yasar, der in Nürnberg ermordet wurde, berichtete: »Mit zitterten die Knie, als ich Zschäpe zum ersten Mal sah. Zunächst wollte ich gar nicht ins Gericht. Ich kam doch, um in die Augen der Mörder meines Vaters zu schauen.«

In der Tat muss es für sie alle fast nicht auszuhalten gewesen sein, den mutmaßlichen Mördern ihrer Liebsten gegenüberzustehen und mit ihnen dieselbe Luft zu atmen. Nur wer ein Familienmitglied verloren hat, kann es nachvollziehen. So wie Ismail Yozgat, Elif Kubasik, Semiya Simsek und die anderen. Doch bleibt ihnen nichts anderes als abzuwarten, dass das Gericht sein Urteil spricht.

Deshalb erwartet man auch, dass der Prozess nicht im Labyrinth der Justiz verschwindet und schnellstmöglich abgeschlossen wird. Um das sicherzustellen, dürfen Antifaschisten und Demokraten nicht locker lassen und müssen diesen Prozess mitverfolgen.

Der NSU-Prozess bietet einerseits für die Angehörigen der Opfer und für alle Migranten die Gelegenheit, das verlorene Vertrauen wiederzugewinnen. Andererseits ist heute die Chance da, die Beziehungen der Verfassungsschutzbehörden zu Neonazis bis ins kleinste Detail zu hinterfragen und offenzulegen. Diese Chance darf nicht vertan werden.

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