Journalismus zur Miete

Noch immer gibt es in Deutschland 120 »Lesezirkel«, die Wartezimmern zu Lektüre verhelfen

  • Almut Kipp, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.
Im Wartezimmer greifen Patienten vielerorts zur Zeitschriftenlektüre, Klatsch aus der Promi-Welt ist etwa beim Friseur willkommen, Politik-Aufklärung wird in Cafés gerne gelesen. Gebündelt gibt es diesen Stoff landauf und landab immer noch zur Miete in Lesemappen - bald aber auch in digitaler Fassung.

Lesemappen bieten das ganze Repertoire der Zeitschriftenpresse - von Klatsch-Blättern über Ratgeberhefte bis zu Nachrichtenmagazinen. Sie werden in Deutschland von rund 120 Unternehmen vertrieben, teils mit jahrhundertealter Tradition. Was in der digitalen Download-Ära verstaubt erscheint, hat nach wie vor Konjunktur in Wartezimmern und Haushalten. Der Umsatz aus der Zeitschriftenvermietung der Lesezirkel stieg 2012 um drei Prozent auf 155 Millionen Euro. Erreicht werden laut Verband rund 11,34 Millionen Leser.

Entspannt zurücklehnen können sich die mittelständischen Lesezirkel-Firmen aber nicht. Gestiegene Benzin- und Papierpreise und hohe Personalkosten haben das Geschäft eingetrübt. Die überregionalen Werbeerlöse gingen zuletzt um ein Zehntel auf rund 20,6 Millionen Euro zurück. »Die Gewinnspanne wird geringer«, berichtet Verbandschef Günther Hildebrand. Und der technologische Wandel hat das Zeitschriftensegment längst erfasst und macht auch vor den Vermietungsfirmen nicht halt. »Wir stehen unter Zeitdruck«, sagte Hildebrand. Die Lesemappen sollen auch digital auf mobilen Endgeräten wie Tablet-PC verfügbar werden.

Möglichst noch in diesem Jahr sollte das Angebot stehen, so die Hoffnung des Verbandsvorsitzenden. Ein einheitliches Konzept muss her, denn einzelne Firmen könnten die technologische Neuerung allein nicht stemmen. Fragen sind offen: Wer stellt einen Tablet-PC für Arztpraxen oder Hotel-Lounges zur Verfügung? Soll solch ein Computer nur ein Zeitschriftensortiment bieten oder auch andere digitale Angebote? Und schließlich: Die Vorteile aus dem Sammelbezug gedruckter Ausgaben müssten auch bei der elektronischen Version zum Tragen kommen.

Grundlage des Lesezirkels ist ein Mietmodell. Der Kunde wählt mindestens fünf Zeitschriften aus, die wöchentlich zugestellt und abgeholt werden. Danach werden die Sortimente weitervermietet. Je nach »Druckfrische« bemisst sich der Preis für das Abo. Bis zu 60 Prozent kann der Leser nach Angaben des Verbandes verglichen mit dem Kioskpreis sparen. Etwa die Hälfte der Abonnenten sind Privathaushalte. Die Firmen haben rund 320 Titel im Sortiment. Lesezirkel in Deutschland fußen auf einer Tradition. Der Postmeister Pankraz Metzger in Kitzingen am Main brachte 1609 als einer der ersten Lesestoff in Umlauf. Für einen halben Taler erhielt der Abonnent handgeschriebene Zeitungen aus Nürnberg oder Frankfurt, später auch aus Wien, Rom und Den Haag. Doch damals blieb Ratsherren, Geistlichen, Advokaten und Stadtschreibern für die Lektüre nur wenig Zeit, nach einer Stunde mussten die Journale zurückgegeben werden.

Später hatten Lesezirkel und Lesegesellschaften maßgeblichen Anteil an der Verbreitung der Illustrierten. Erstmals wurden eigenständige Betriebe gegründet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren von rund 1200 Lesezirkeln mehr als zwei Drittel ein Nebenerwerb. Eine zweite Blüte erlebten die Firmen nach dem Zweiten Weltkrieg mit 800 eigenständigen Betrieben im Jahr 1955.

Eine der ältesten Firmen ist der Leszirkel Krumbeck in Ellerbek (Kreis Pinneberg). Seit 1901 versorgt die Unternehmerfamilie in vierter Generation die Lesehungrigen an der Westküste von Schleswig-Holstein. Der Umsatz von rund 1,4 Millionen Euro sei seit Jahren stabil, versichert Geschäftsführerin Regine Hildebrand. Auf das Internet als Bestellschiene könne sie nicht mehr verzichten. Rund ein Fünftel der Erlöse kämen darüber herein. Der 1907 gegründete »Leserkreis Daheim« war für die Hamburger Verlegerfamilie Ganske sogar der Grundstock für ihr Medienhaus mit Zeitschriften (»Für Sie«) und Verlagen (Hoffmann und Campe/Gräfe und Unzer).

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