nd-aktuell.de / 13.05.2013 / Kultur / Seite 15

Das Gaskammerspiel

Nach der »Tannhäuser«-Absetzung in Düsseldorf: wieder mal die Standardfrage, wie brachial Theater sein »darf«

Hans-Dieter Schütt

Wer Theatergestalt wurde, kam in neueren Zeiten weit herum. Schillers Räuber sah ich schon auf dem Mond, König Lear landete in einem Schweinekoben, Gretchen huschte iranisch verhüllt in Frau Marthe Schwertleins Garten. Natürlich mussten Hebbels Nibelungen irgendwann nach Stalingrad, die Troerinnen erwachten im Gulag. Hamlet verschlug es zu den Neonazis. Der Kaufmann von Venedig glitt schlangenelegant durchs Wallstreet-Milieu, Othello spielte sich durch eine Fremdenlegion. Wagners Recken rackerten in einer Biogasanlage, und jetzt, in Düsseldorfs Deutscher Oper am Rhein, war bei »Tannhäuser« Holocaust angesagt. Theater, ein Gelände der Versuchungen, alles Vorgegebene, Hohe, Edle zu zerstören.

Huch! Zerstören?

Ja. Shakespeare, Molière, Schiller, Grabbe, Hebbel, Büchner, Kleist, alle: Sie schrieben für den Skandal. Ihr Werk war Anleitung zur Lunte. Sie heute aufführen heißt: diese Skandalträchtigkeit prüfen, sie zur Not brachial heraussprengen. Dichters Wort? Weniger ein Heiligtum als Dichters Geist. In der heimischen Bibliothek, diesem toten Regalwerk, ist der Text ein großer Schatz, aber fürs Theater, dieses lebendige Wesen, ist er eine Zuarbeit, eine Vorgabe, ein Verarbeitungsreiz. Theatermacher sind keine Gärtner, sie sind Jäger, ihr Theater will ins Herz treffen, das im Heute schlägt - und es möge in diesem Heute auch mal stehen bleiben vor bösem, bitterem Erschrecken. Nur immer virtuos das spielen, was man von den Klassikern schon weiß? Warum dann überhaupt noch spielen?

Das Theater bleibt wie jede Institution, die dauernd in Betrieb ist, nicht nur konzentriert auf seine Intelligenz und Ausnahmetalente, es lebt durch Versuch und Irrtum. Können und Nichtkönnen arbeiten gemeinsam an einer Bühne, wie ja auch gemeinsam in einer Gesellschaft, einem Betrieb, einer Partei. Theaterspiel ist Selbstgefährdung des Apparats, nicht dessen Selbstversicherung. Unsicherheit bleibt das Qualitätssiegel einer wirklich suchenden Aufklärung, und weil auf dem Theater alles (alles!) als total folgenlos verstanden werden darf, kann dort oben auch rumort und getobt werden, was das Zeug hält.

Dies muss leider auch dort, wo einzig nur Blödsinn und Äußerlichkeiten entstehen, als Tugend verteidigt werden. Denn Theater lebt, indem es sich nie ganz im Griff hat. Alles, was mich in der Kunst von einer Wahrheit überzeugen kann, wird doch automatisch auch von denen benutzt, die nur stochern oder mich gar zu täuschen versuchen.

»Tannhäuser« in Düsseldorf, Regie: Burkhard C. Kosminski. Intendant Christoph Meyer setzte die Inszenierung nach der Premiere ab, weil Zuschauer ob der krassen NS-Gewaltszenen zum Notarzt mussten. Ach, eines Leiters Notwehr, von Fürsorge geprägt - in der Haut so ungewöhnlich geprüfter Entscheidungsträger möchte man nicht stecken. Aber zugleich ist die Entscheidung feige. Weil sie vor einem Verstörungsimpuls einknickte, der doch offenbar zu den inszenatorischen Kerntrieben von Kosminskis Arbeit zählte.

Im Gegensatz zur Weltpolitik, wo seit Gorbatschow die Helden des Rückzugs zu den Mustertypen künftiger Friedensformen zählen, ist in der Kunst das Einknicken keine Leistung. Der Intendant schloss den Vorhang, der Regisseur sich irgendwo ein. Erst die Fahne der Wilden schwenken, dann schwanken? Jetzt spielt man Hauptrollen in einem Schwank. Vor über dreißig Jahren inszenierte Hans Neuenfels in Frankfurt am Main die »Aida«: Liebestod wie in der Gaskammer. Kritikerjubel, Publikumserregung - aber die Aufführung wurde nicht abgesetzt!

Wieder also steht Theater in der Diskussion: Was »darf« es, wo überschreitet es Grenzen, hinter denen die Provokation in hilflose Unkontrolliertheit umschlägt. Jürgen Goschs »Macbeth« vor Jahren am Schauspiel (ja!) Düsseldorf: Das Kunstblut war rascher über nackten Körpern geleert, als die Handlung voranschreiten konnte. Shakespeare: »Schlimm ist schön, und schön ist schlimm.« Das Bestechende dieser Inszenierung lag in der Radikalisierung der Weltsicht mittels dreckigster Anschauungsmittel. Eine Stadt geriet debattierend außer Rand und Band. Oder: die gespielten Sexorgien des Katalanen Calixto Bieito. Oder Peter Konwitschny, dessen Dresdner »Czardasfürstin« eine bieder-bunte Operette in entsetzliche Kriegsfarben tauchte. Oder Johann Kresniks Exzess-Tanzfeste! Oder Frank Castorf: Theater, das Bedürfnisse nach entspannendem Kulturgenuss mit allen verfügbaren Mitteln zu unterlaufen sucht.

Das Merkwürdige an der Erregtheit über Brachiales, Lautes, Ekliges auf Bühnen: In keiner Kunst ist doch von vornherein so sehr das Unwirkliche spürbar wie im Theater. Keine Kunst stellt derart deutlich, ja ungelenk und durchsichtig seine Mittel, dieses »als ob« aus. Im Theater scheitert jeder Versuch, etwas so abzubilden, als sei es wirklich. Und trotzdem geschieht das Seltsame: Horror in Film und Fernsehen löst in der Regel nicht das aus, was ein kunstblutbesudelter nackter Mensch in einer Theateraufführung bewirkt. Vielleicht ist die Bühne wie ein letzter Ort, an dem unsere Scham, unser Ekel über die Vertierungen im menschlichen Handeln auf eine so körpernahe Probe gestellt werden.

Im Theater treffen an einem Abend oft unterschiedliche Sehnsüchte aufeinander: Der Wunsch nach harmonischer Gegenwelt, nach Sprache - er trifft auf die Wut über den Zustand der Welt. Im Publikum treffen Aussteiger aus einem kruden Alltag, die für ein paar Stunden einfach nur vergessen wollen, auf jene, die vom Theater Ehrlichkeit erwarten - Ehrlichkeit, die ihnen eine heuchlerische, beschönigende, den Angstschrei verpönende Gesellschaft verweigert. Dieser »Kampf« im Publikum ist das Wesen des Theaters. Es ist Öffentlichwerden von Irritation, also immer auch eine Aufforderung zum Gespräch (vielleicht gerade dann, wenn plötzlich Notärzte ins abgebrochene Spiel kommen).

Schauspiel: Ströme von Blut, Rotz, Sperma. Und die Oper? Da capo: Kotz noch einmal. Ewige Balance zwischen dem Hässlichen und dem Kunstschönen - das nichts Natürliches ist, sondern ein vom Wunsch geleitetes Produkt, das oft nur über den Schmerz aus Umständen herausgepresst werden muss. Hans Neuenfels inszenierte vor Jahren die »Medea« des Euripides, ebenfalls in Frankfurt am Main. Eine Aufführung mit gierigen Doggen, einem schwarzen Dildo des Boten und dem notverzweifelten Halbeinverständnis der Medea mit Kindsvergewaltigungen durch Kreon. Ein Verweis darauf, dass Kunst Erregung bedeutet, die ins grenzwertig Überspannte gehen kann. Der schlaffe Bogen ist der Feind der Wahrhaftigkeit, und das Theater belügt sich, wenn es Propaganda für korrektes Verhalten wird. Theater muss krass zum Bild erheben dürfen, was im Rollenspiel des gesellschaftlichen Leben sich auszusprechen, aufzuzeigen verbietet.

Natürlich ist das immer auch der beste Weg, sich zu blamieren, sich zu verrennen. Eine Idee ist manchmal ein Messer. Sie schneidet ein, sie filetiert, sie ist unter Umständen grausam eindeutig und also exzellent angreifbar. Sie entblößt sich in ihrer zupackenden Begrenztheit. Die Schwelle, sich davon verwirren, sich peinlich berühren zu lassen, hat bei jedem Zuschauer andere Höhen.

Manche halten Erbauung und freundliche Illusionen für das Beste am Theater. Sie müssen den Mut zur Feigheit haben, manche Aufführungen zu meiden. Oder die Feigheit eines Intendanten kommt ihnen entgegen.