Bizarre Begegnungen

Das Staatsballett fahndet im Berghain nach dem Phänomen »Masse«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn ein Ballettabend seine Zuschauer angeregt, nachdenklich, auch froh entlässt, hat er seine Bestimmung erfüllt. Das ist dem Staatsballett Berlin mit seiner Neuproduktion »Masse« an ungewöhnlichem Ort geglückt. Dem von drei jungen Choreografen in unterschiedliche Richtung beleuchteten Phänomen addiert sich als weitere Dimension die architektonische Baumasse der Halle am Club Berghain: Sie war ehemals Kesselhaus im Komplex eines Heizkraftwerks aus den DDR-1950ern. Heute, in noch verfallenem Zustand, beeindruckt sie durch Höhe, ragende Pilaster und ihren zerbröselnden Charme. Von einer eigens errichteten Tribüne aus können wahre Massen von Besuchern den »Masse«-Choreografien beiwohnen. Dass der Abend ein überwiegend junges Publikum in den Partytempel lockt, entspricht der Intention des in zeitgenössische Ausdrucksweisen vorpreschenden Programms.

Zeitgemäß von elektronischem Zuschnitt sind die Klangwelten, die sich den Tanzentwürfen anschmiegen, sie kontrastieren oder ihnen hinreichend Raum zur Entfaltung eigener Ideen lassen. Fix installiert für alle drei Teile bleibt Norbert Biskys Bühne. Aus einem schwarzen Podium, das nach vorn hin rund und weich zerläuft wie Lavamasse, ragt das Skelett eines ausgebrannten, aufgeschlitzten, nun Skulptur gewordenen Busses auf, Symbol des einst engen, jetzt katastrophal gescheiterten Zusammenseins von Passagieren.

Theologisch-philosophisch beginnt die Suche nach der »Masse«. Xenia Wiest geht sie mit dem Dominikaner Thomas von Aquino, mittelalterlicher Scholastiker und Denker, an: Ihr »Quinque viae - Dynamics of Existence« forscht Aquinos »fünf Wegen« zum Gottesbeweis nach. Dazu lässt sie einen Schöpfer zwölf gedrängte Wesen schaffen, die als Zellverband kontrahieren, ehe sie im Flackerlicht zu Einzelpersönlichkeiten aufblühen und dennoch ihre Zweifel behalten.

Wiest führt abstrakte Rollen wie Adaptive Gedanken, Statische Ideologie, Chaotische Kreativität ein und konfrontiert so Auffassungen vom Leben. Was jedoch am Ende zählt, ist die Umsetzung in Tanz, und die gelingt ihr bravourös. Wiest erfindet zur Komposition von Efdemin & Marcel Fengler für den Körper und aus ihm heraus vielfältigste Bewegungsfolgen, die sich zu bizarren Begegnungen, intensiven Duetten fügen. Auch die Evolutionskette vom Kriechtier zum Menschen zitiert sie und führt vor, was aus ihm geworden ist: das ungehört palavernde Wesen der Neuzeit, das seinen Schöpfer traurig stimmt.

Sind es Federico Spallitta und Elisa Carrillo Cabrera, denen Wiests Tanzsprache besonders entgegenkommt, trumpfen in Nadja Saidakovas »Boson« als Duo Iana Salenko und Vladislav Marinov auf. Der Titel meint spezielle Teilchen der Atomphysik, die die Kräfte zwischen den Materieteilchen vermitteln. Ihr Oktett lässt Saidakova zu dumpfem Klang von Marcel Dettmann & Frank Wiedemann aus einem Gespinst vor dem aufgebockten Gefährt sich freiwabern, verflicht sie bald in skulpturale Bodenposen mit Extremausdrehungen der Extremitäten und Überdehnungen, gliedert sie in Form eines Tympanons, macht sie mit Lampen an den Händen zu tanzenden Lichtern.

Marinovs finales Solo voller Klappungen schluckt der Nebel. Hält das ebenfalls halbstündige Stück dem Fabulierreichtum auch des dritten Teils nicht stand, so schafft es doch mit seiner kontemplativen Ruhe und inneren Spannung den Übergang zu Tim Plegges lakonisch »They« genannter Recherche um den Rest von Individualität in der Masse.

Entsprechend tragen die neun Tänzer zu Beginn uniformierende Masken. Souverän arbeitet er mit Dynamiken, als die Menschen sich maskenfrei individualisieren. Höhepunkt sind zwei Duette, in denen Soraya Bruno und Arshak Ghalumyan als ringkämpfendes, Shoko Nakamura und Michael Banzhaf als hingebungsvolles Paar brillieren. Plegge, als Profi Gast dieses Junge-Choreografen-Förderprogramms, fügt zu Musik von Henrik Schwarz die Körper bisweilen wie mit dem Schweißbrenner zusammen und lässt bis auf eine Gestalt alle den Weg in die Freiheit finden. Kürzung wäre indes Gewinn für eine überlange, mitunter schwächelnde, dennoch anspruchsvolle Kreation.

Wie sehr bereit gediegene Schulung im Klassischen Tanz auch für zeitgenössische Stilistiken macht, das beweisen alle »Masse«-Tänzer nachdrücklich. Wie viel Spaß sie daran haben, überträgt sich angenehm auf den Zuschauer. Und dass im Staatsballett choreografische Talente auf ihre Chance warten, hat man eh geahnt.

Nächste Vorstellungen am 18., 22., 24. und 25.5., Halle am Berghain, Am Wriezener Bahnhof 1, Friedrichshain. Tel.: (030) 20 60 92 630, www.staatsballett-berlin.de

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