Zuflucht zur schwungvollen Linie

Henry van de Velde hat erfolgreich die Kunst entrümpelt

  • Martina Jammers
  • Lesedauer: 6 Min.

Mit seinen sechs organischen Armen greift van de Veldes Kerzenleuchter in den Raum aus. Die tänzerische - mal fließende, mal kataraktische - Bewegung in unterschiedlichen Abständen zum Schaft simuliert das Züngeln und Flackern des Kerzenlichts. Das polierte Silber potenziert diesen Effekt. Es handelt sich, dem reformkünstlerischen Ansatz gemäß, um versilberte Bronze. Der im Fin de Siècle geschaffene Leuchter lotst das Publikum ins Formenreich Henry van de Veldes (1863-1957), das im Weimarer Neuen Museum erstmals umfassend und aus Anlass des 150. Geburtstag des Universalkünstlers präsentiert wird.

Das Gebilde steht paradigmatisch für Werk und Wirken des belgischen Künstlers, leitet es sich doch originär von der Linie ab, die all seinen Objekten innewohnt, sei es der Türbeschlag zum Weimarer Nietzsche-Archiv, die Buchgestaltungen, das Jenaer Abbe-Denkmal oder die freischwingende Jugendstiltreppe im früheren Kunstschulgebäude in Weimar. Kurator Thomas Föhl spricht gar vom »Dämon der Linie«, die alle Genres dominiere.

Zugleich leitet sich die Form des Leuchters von seiner Funktion ab. Van de Velde war alles »Angeklebte, Angefügte« verhasst. Stattdessen favorisierte er »ruhige Flächen und edle, zurückhaltende Formen«. Und bei aller offensichtlichen Noblesse legte er gesteigerten Wert auf gediegenes Handwerk. Nach dem Vorbild der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung wird dem spezifischen Material Rechnung getragen und die sorgsame Bearbeitung unterstrichen.

Davon profitierten etwa zahlreiche Handwerksbetriebe im Weimarer Umfeld, die durch van de Veldes Anregungen zu hervorragenden Erzeugnissen gelangten, wie die Buchbinderei von Otto Dorfner, die Korbmöbel und Teppiche herstellende Firma August Bosse am Theaterplatz oder der Juwelier Müller. Letzterer besaß 1902 noch einen winzigen Laden, der bereits 1914 mehrere Dutzend Mitarbeiter beschäftigte. Und Otto Dorfner avancierte 1910 zum Lehrer an der Kunstgewerbeschule van de Veldes. So ventilierte der belgische Künstler in hohem Maße die heimische Wirtschaft. Die Weimarer Tischlerei Fritz Scheidemantel beauftragte er mit der Umsetzung fast aller Möbelentwürfe und Innenraumdekorationen. Für die 1901 gegründete Porzellanmanufaktur in Burgau bei Jena entwarf er mindestens ein Service mit dem charakteristischen Häkchen-Ornament, von dem man übrigens derzeit im Jenenser Museumscafé tafeln kann. Van de Velde nahm also seinen Auftrag ernst, wurde er doch 1902 als künstlerischer Berater für Kleingewerbe und Kunsthandwerk im Großherzogtum Sachsen-Weimar berufen.

Dass er mal einst komplette Villen oder Kunstgewerbeschulen vom Grundriss bis zum Teelöffelchen entwerfen sollte, war dem in Antwerpen geborenen Apothekersohn Henricus Clementinus nicht an der Wiege gesungen. Fasziniert von Seurats Gemälde »Grande Jatte« wird er 1888 gemeinsam mit Rodin Mitglied der Brüsseler Künstlergruppe »Les XX«, welche die Förderung eines unkonventionellen Stils auf ihre Fahnen schrieb. In seinem Strandbild »Blankenberghe« (1888) frönt er dem Neoimpressionismus, wobei sich selbst inmitten all dieser Pünktchenpinselei bereits die Bevorzugung von schwungvollen Flächen ankündigt. Auch van Goghs konvulsivischer Duktus zog ihn in seinen Bann. Der Maler sah sich fortan zwischen zwei gegensätzlichen malerischen Richtungen hin- und hergerissen: »Einerseits eine verzweifelt ruhige und schwerfällige Technik, andererseits eine ungestüme Technik, die immer das maßlose Gefühlsmoment im Blick hat.«

Zudem betätigt sich der Künstler zunehmend als Autor und Journalist. So erscheint 1892 seine erste Buchpublikation »Vom Bauern in der Malerei« im Verlag »L’Avenir social«. In seiner ein Jahr später entstandenen »Abstrakten Pflanzenkomposition« bricht sich die Kraft der freien Linie Bahn.

Mit dem Entwurf für seinen Wandteppich »Engelwache« gibt er 1893 endgültig die Malerei auf und beginnt mit ersten Möbelentwürfen. In seinem Essay »Die Entrümpelung der Kunst« in der Zeitschrift »La Société nouvelle« propagiert er »das große Aufräumen« - und setzt dies sogleich um. In der Pariser Galerie des deutschstämmigen Kunsthändlers Siegfried Bing zeigt van de Velde drei Zimmer, die einen Geschmackseklat beim Publikum auslösen: Edmond de Goncourt ereifert sich über »Stoffe in der Farbe von Gänseschiss« und über Gegenstände, die er dem Ambiente eines Leichenschauhauses zuordnet und als »Delirium der Hässlichkeit« brandmarkt. Als die Bing-Zimmer 1897 auf der Internationalen Kunst-Ausstellung in Dresden gezeigt werden, machen sie ihren Schöpfer auf einen Schlag bekannt.

Fortan wendet sich van de Velde vornehmlich dem deutschen und später dem belgischen Publikum zu, das sich als aufgeschlossener gegenüber dem neuen Formenvokabular erweist. Es wäre verkürzend, den Belgier alleine auf den Jugendstil zu verpflichten. All seine Projekte wenden sich gegen den historistischen Plunder mit Putten und Stuck sowie schummrigen Samtvorhängen, welche die Gründerzeit verdüsterten. Van de Velde reißt förmlich die Gardinen auf und spendet durch reichliche Fenstereinbauten Licht.

Man vermisst bei van de Velde das für den Art Nouveau so typische florale Element. Für ihn galt als »edelstes« das »abstrakte Ornament«. Während die organische Linie etwa bei seinem Entwurf für die Verkaufsräume der Zigarrenhandlung Havana-Compagnie in der Berliner Mohrenstraße dominiert und den Raum mit dem Dekor amalgamiert, besticht das Interieur der Chemnitzer Villa Esche eher durch Sachlichkeit. Der knallig karmesinrote Sessel von 1902 nimmt mit seiner schlichten Trapezform den Bauhaus-Stil vorweg. Gleiches gilt für die Messing-Tischleuchte Modell E 117, die zudem mit ihren ostentativen Schrauben den Art-Nouveau anklingen lässt.

Zukunftsweisend ist das Vorgehen des Architekten, der ja als Autodidakt reüssiert, wenn er zunächst die Bedürfnisse der künftigen Bewohner ermittelt und gewissermaßen um diese herum baut. Van de Velde arbeitet wie ein Internist, wenn er das Zimmer als »Körper« betrachtet und die Möbel als deren »Organe«. Fixiert man sich auf die noblen Villen des Architekten, die er - wie das im Jubiläumsjahr zu besichtigende, original möblierte »Haus Schulenburg« in Gera - für die betuchte Klientel errichtete, oder auf die glanzvolle Tafel, die nun im Weimarer Neuen Museum eingedeckt wurde mit ihrem 18-teiligen Service, verliert man leicht aus den Augen, dass ihn die Lehren von John Ruskin und William Morris mit ihren sozialen Fundamenten inspirierten.

Gar nicht hoch genug einzuschätzen ist van de Veldes reformatorisches Wirken für die kunsthandwerkliche Ausbildung. Bereits im Oktober 1902 eröffnete er im Weimarer »Prellerhaus« auf zwei Etagen ein von ihm privat organisiertes und finanziertes »Kunstgewerbliches Seminar«, das der unentgeltlichen Beratung - Erteilung von Auskünften, Ratschlägen und Korrekturen - von Fabrikanten und Handwerkern diente.

Die von ihm ab 1908 geleitete Großherzogliche Kunstgewerbeschule war im Deutschen Reich beispiellos. Das Unterrichtsprogramm zielte auf die künstlerische Ausbildung für einzelne gewerbliche Berufszweige und vermittelte praktische Fertigkeiten in den Abteilungen Buchbinderei, Teppichknüpferei/Weberei, Keramische Abteilung und Metall. Als van de Velde im Ersten Weltkrieg als Ausländer zunehmend Anfeindungen ausgesetzt war, flüchtete er in die Schweiz. Doch seinen guten Ruf hatte er bei den Gewerbetreibenden in Weimar nicht verloren, die 1919 an die Provisorische Regierung den Antrag stellten, »den früheren Leiter des Weimarischen Kunstgewerbes« wieder zurückzuholen. Dies kam jedoch nicht mehr zustande. Dafür konnte van de Velde noch persönlich Gropius als neuen Leiter empfehlen.

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