Zwischen Komsomolsk und Ludwigshafen

SPURENSUCHE: Die 23-jährige Sofia Samoylova verbindet per Kamera ihre russischen und deutschen Kindheitswege

  • Lesedauer: 3 Min.
Aufgewachsen ist Sofia Samoylova im russischen Stary Oskol rund 180 Kilometer nordöstlich von Charkow, aber während ihrer Sommerferien war sie regelmäßig bei den Großeltern im ukrainische Komsomolsk. Mit zehn Jahren kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Die heute in Mannheim lebende 23-Jährige ging per Kamera ihrer Kindheit nach. Geworden ist daraus sogar ein Fernsehfilm: »Zwei Städte aus meinem Leben«.

nd: Wie kam es zu Ihrem Projekt?
Samoylova: Meine Großeltern Efimia und Evgenij Schestakov sind 80 beziehungsweise 79 Jahre alt, und deswegen ist es für sie schwierig, uns hier in Deutschland zu besuchen. Das hat mich auf die Idee gebracht, in einem Film die beiden Städte Ludwigshafen, wo ich bis zu meinem Umzug nach Mannheim gewohnt habe, und Komsomolsk, wo meine Großeltern leben, nebeneinander zu stellen.

Was haben Sie empfunden, als Sie in Komsomolsk gedreht haben?
Alles kam mir wieder so vertraut vor, nichts war mir fremd. Zum Beispiel gibt es in Komsomolsk einen großen Park für Kinder, mit Klettergerüsten und Schaukeln und einer Achterbahn, und als ich jetzt gesehen habe, welchen Spaß die Mädchen und Jungen dort immer noch haben, bin ich zurückversetzt worden in die Sommer meiner frühen Jugend.

Ein Hauch von Wehmut?
Auf jeden Fall. Schließlich sind meine Ferientage in Komsomolsk geradezu paradiesisch gewesen. Ich hatte keine Schule, musste nicht lernen, und meine Großeltern haben sich super um mich gekümmert. Wenn man dann zurückkehrt, möchte man am liebsten die Uhr zurückdrehen.

Menschen, die wie Sie in jungen Jahren umgesiedelt sind, sagen oft, dass sie nicht wissen, wer sie eigentlich sind, weil sie gewissermaßen zwei Seelen in ihrer Brust tragen.
Eine unterschwellige Irritation ist manchmal da, das kann ich nicht abstreiten.

Was haben Sie damals mit zehn Jahren so gedacht, als Sie Ihre Eltern nach Deutschland begleiten sollten?
Anfangs war es eher wie ein Abenteuer, einfach cool.

Haben Sie irgendwann mal Heimweh nach Russland gekriegt?
Nein. Bereits in der Schule bin ich super herzlich aufgenommen worden, die anderen Kinder haben mir beim Lernen der Sprache geholfen, so dass ich in das Leben hier wie selbstverständlich hineingekommen bin. Einen Trennungsschmerz habe ich daher nie gespürt, zumal ich auch niemals Diskriminierung und Ausgrenzung, von der andere Migranten berichten, erfahren habe.

Ist Ihre Familiengeschichte demnach ein exemplarischer Beitrag zur Versöhnung?
Absolut. Entsprechend haben die langen Gespräche, die wir in der Familie über das Thema geführt haben, mich aktuell zu einem neuen Filmprojekt motiviert: Ich befrage Zeitzeugen hier in Deutschland und in Komsomolsk, wie sie den Krieg erlebt haben. In der Ukraine habe ich unter meinen 20 Gesprächspartnern nur eine Frau getroffen, die Deutschland gegenüber weiterhin sehr feindlich eingestellt geblieben ist.

Wo werden wir diesen Film sehen können?
Im Offenen Kanal Ludwigshafen, außerdem strahlt ihn das Regionalfernsehen von Komsomolsk aus. Und ich wünsche mir sehr, dass der Film im Rahmen des Geschichtsunterrichts anschließend auch an Schulen gezeigt wird.

Gespräch: René Gralla

»Zwei Städte aus meinem Leben« von Sofia Samoylova: Der TV-Film lief im Offenen Kanal Ludwigshafen; der Teilbeitrag über das ukrainische Komsomolsk ist zu sehen bei Youtube unter youtu.be/rCHb9uJ_tHU

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