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Arme Kinder (und sensationslüsterne Erwachsene)

ZUR SEELE: Erkundungen mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 3 Min.
Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.
Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.

Es gibt zwei Arten von moralischem Schwachsinn. Die eine ist allgemein bekannt und geächtet. Sie betrifft die Gewissenlosigkeit des Soziopathen, der ohne Mitgefühl Kinder missbraucht oder Liebe weckt, um besser betrügen zu können.

Die zweite Form des moralischen Schwachsinns hingegen verleugnet sich gern. Sie gibt sich manchmal sogar als überlegene Sittenstärke aus. Es ist die Variante des selbstgewissen Tugendboldes. Wo beim Soziopathen die Triebe über Einfühlung und Vernunft triumphieren, ist es beim Normopathen die Moral, mit der er die Vielfalt des Lebens, der Liebe, der Verstrickung und der Lösung erstickt. Wo ihn eine Frage beunruhigt, eine Erscheinung nicht zu seinen Normen passt, wird sie mit einer Moralkeule plattgemacht.

Der Bösewicht wird bestraft, das Opfer gerettet - dieses Muster entspricht den Bedürfnissen der Massenmedien. Wer das nicht bieten kann, wird nicht in die Talkrunde eingeladen. Ich erinnere mich an ein Telefonat mit einem Medienvertreter, der mich in seiner Show nur zu Wort kommen lassen wollte, wenn ich für die freie Liebe und den glücklichen Seitensprung spräche. Einen Treuebefürworter hätte er schon.

An solche steilen Vereinfachungen muss ich denken, wenn ich die Diskussion über die »Pädophilie-Befürworter« in der grünen Partei betrachte. Ein origineller Politiker wie Daniel Cohn-Bendit wird von Zitaten aus den siebziger Jahren verfolgt wie von Gespenstern. Für den, der sich an diese Zeit und ihre Debatten noch erinnern kann, ging es nur in Splittergruppen um Pädophilie. Im Zentrum stand eine Auseinandersetzung mit einer sexualfeindlichen, homophoben Restauration im konservativ-katholischen Adenauerdeutschland. Wie gut gerade die Pädophilie im Schatten der sexualfeindlichen Moral katholischer Institutionen gedeiht, haben nur die Betroffenen schon immer gewusst. Die Öffentlichkeit beschäftigte sich damit erst sehr viel später.

Aus den damals angestoßenen Diskussionen wuchsen Differenzierungen, die uns heute selbstverständlich sind, damals aber erst erarbeitet werden mussten. Wir machen uns selten klar, wie wenig politische Korrektheit in der Sprache der siebziger Jahren regierte; ich selbst habe in meinen ersten Büchern noch in aller Unschuld etwa von »Negern« geschrieben. Dem sexualfeindlichen, sich fromm gebenden Muff folgte eine verbale und optische Sexualisierung, die erst allmählich wieder Grenzen ziehen konnte. Der Kapitalismus hat sich von den Kämpfern um erotische Freiheit nicht nur nicht einschüchtern lassen. Im Gegenteil, sie wurden seine nützlichen Idioten, um eine höchst profitable Porno-Industrie aufzubauen.

In den angeprangerten Äußerungen von Cohn-Bendit kann ich nicht mehr sehen als ein ungeschickt überspitztes, für den heutigen Leser in Bezug auf sexuellen Missbrauch ignorant wirkendes Plädoyer für den einfühlenden Umgang mit der kindlichen Sexualität. Es ist heute ein Konsens unter Entwicklungspsychologen und Psychotherapeuten, dass Kinder vor dem sexuellen Übergriff eines Erwachsenen ebenso beschützt werden müssen wie vor dem sexualfeindlichen, der sich beispielsweise gegen die kindliche Selbstbefriedigung richtet. Allerdings interessiert die Medien (und den Staatsanwalt) die sexuelle Attacke auf ein Kind ungleich mehr als die Prügel, die es für Doktorspiele einstecken muss, oder aber die ebenso unsichtbare wie verbreitete Gleichgültigkeit und Vernachlässigung, die täglich viele Tausende von Kindern in Deutschland betrifft.

Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist abscheulich und sensationsträchtig. Er wird zu Recht angeprangert, es gibt politische Reaktionen bis hin zum Missbrauchsbeauftragten. Einen Vernachlässigungsbeauftragten gibt es nicht. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut, jedes fünfte Kind scheitert an einfachen Mathe- und Deutschaufgaben. Das ist, wie Felix Berth in seinem nachdenklichen Buch »Die Verschwendung der Kindheit« sagt, nicht nur beschämend, sondern auch ökonomisch dumm. Wir dürfen nicht aufhören, Kinder von sexuellem Missbrauch zu schützen. Aber wir sollten auch darauf achten, dass in dem geräuschvollen Umgang mit dem einen Verbrechen nicht das umfassendere Verbrechen der Vernachlässigung, der Gleichgültigkeit, der emotionalen und geistigen Verarmung von Kindern untergeht.

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