Verratene Entkommenshoffnung

»Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren«, Teil 1, am »theater 89«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Was fügt Leben zu einer Biografie? Und wenn eine Biografie sich vollendete - wie viel davon durfte wirklich Leben sein? Der alte Mann da berichtet von Moskau, Anfang dieses Jahrtausends, und er lächelt: Einst empfingen sie ihn hier mit Handschellen, jetzt mit Sekt. Dazwischen ein Zeitalter. Erwin Jöris erzählt sein langes Leben.

»Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren. Ein Jahrhundertdiktat. Erwin Jöris« heißt das Buch von Andreas Petersen, Schicksal eines deutschen Kommunisten, geboren 1912, verfolgt von den Nazis und den eigenen Genossen. Über zwanzig Jahre Haft! In drei Teilen wird das »theater 89« im Rahmen seines Langzeitprojektes »Erinnern« diese Geschichte erzählen, Teil 1 hatte nun Premiere: »Spartakus und Reichskanzlei« (Regie: Hans-Joachim Frank, Bühne: Klaus Noack).

Jöris als Junge und Jugendlicher, ein Lichtenberger Arbeiterleben, ein Ereignisreigen vom Trauerzug für Rosa und Karl bis zu Hitlers Herrschaftsbeginn. Das proletarische Einheitsfrontglück. Die plebejischen Zeltfreudenplätze weit vor der Stadt. »Entkommenshoffnung« nennt Jöris das Linkssein; eine Hoffnung, die unter der KPD-Kaderknute ziemlich bald erstickt. Berliner Geschichte, deutsche Geschichte, die Tragik der Arbeiterspaltungen. Das rote Sofa auf der Bühne des historischen Gemeindesaales Moabit, der Erinnerungston des Abends, eine Atmosphäre zwischen nüchternem Saal und verschlissenem Salon - stimmiger Baugrund für eine berührende Lebensreise.

Kindheits- und Jugendberichte verzahnt. Bernhard Geffke spielt den alten, sich erinnernden Jöris; ein pfiffig-wach Gebeugter am Stock, da ist noch Kraft im polternden Ton, ein kleines Aufstampfen gleichsam auf dem Gelassenheitsteppich, dem ihm die Zeit auslegte. Christian Natter ist der muskelfeste Jungtischler Jöris und Leonhard Geffke das aufgeweckte Kind - du siehst den Alten und dann eben dieses Kind. Beunruhigend. Denn wie wenig weiß der Mensch in seiner Frühe, was das sein wird, sein Zur-Welt-Kommen ein Leben lang. Es ist der berührendste Augenblick des Abends, wenn der kleine Leonhard Geffke Eislers und Brechts »O Falladah, die du hangest!« singt. So hell, so zart; dass dieses Lied, aus diesem Körper kommend, von diesen Lippen, aus diesem Atem, plötzlich so sehr wissend klingt - es schafft Erschütterung: als sei es die schmerzhafteste Wahrheit, dass bereits ein Unschuldiger die Botschaft von der immer möglichen Vertierung des Menschen verkündet.

Peter Weiss sprach einmal vom »unangenehm genussvollen Hass« der Kommunisten auf die Sozialdemokraten. Verweis auf eine bis heute reichende Gluthäme. Dieser Hass attackiert die verhängnisvollen Schandhaltungen der SPD, jene unrühmliche Spur durch die Jahrhundertgeschichte, noch immer mit aufgepulverter Arroganz - als gebe es nicht auch eine linke Geschichte, die zu dem großen SPD-Versagen doch untrennbar den kommunistischen Komplementärfakt bildete. Dieses Spannungsfeld wird hier lebendig. Denn war da nicht die Bolschewisierung einer ganzen Partei? Die unentwegte Feindproduktion nach der Theorie des »Sozialfaschismus«? Dann die Auslieferung aller humanen Ethik und unzähliger Menschen an Stalin? Und nach dem Krieg, geschah da nicht die Verwandlung eines Aufbauwerks in eine nächste Vergatterungsgeschichte? So dass am Ende der Eindruck blieb, Sozialismus sei letztlich nur die freiheitsraubende Verwaltung einer von Moskau geschenkten »Revolution« gewesen.

Der alte Jöris blickt zurück. Das Mahlwerk Geschichte als Opfergang des Einzelnen. Die Lust der Einmischung - die Last der Einverleibung. Und die Erkenntnis, dass auch die kommunistische Hierarchie Oben und Unten schuf. Die Führer und die Geführten. Die an der Nase Herumgeführten. Da taktiert die KPD-Führung, nur weil man Preußens Regierung zu Fall bringen will, gemeinsam mit den Nazis. Und Ulbricht belfert gegen die »Judenkapitalisten«. Als 1929 ein Freund von Jöris von der Polizei erschossen wird, sammelt die Partei Geld für die Familie des Ermordeten. Es kommt da nie an. Jöris: »Die Partei brauchte die Opfer, um die Menschen hat sie sich nie gekümmert.« Die frühe Regentschaft der Frost-Funktionäre. Die Ideologen, die mit einer Idee logen. So geistert Johannes Achtelik, der gemeinsam mit Katrin Schwingel »Zeitgenossen« von Jöris spielt, auch als menschenverachtender Mielke durch die Szene. Wir hören Luxemburgs Rede von revolutionärer Selbstkritik »bis auf den Schmerzgrund« (bloße Theorie, denn vielen kritischen Genossen fror die Schnauze nicht erst in Sibirien zu!).

Hans-Joachim Frank zeigt: Die Geschichte ist ein Schrecken, sie ist aber auch eine Revue des Schreckens. Kampflied und Schlager (»Ein bisschen Leichtsinn kann nicht schaden«), Seligkeitsträller und Stempellied (Klavier: Maria Grimm, Posaune: Jürg Huke) - sie verschmelzen zu einem einzigen Erleben; des gedemütigten und geschlagenen, des aufständischen und träumenden Menschen. Der - von unten auf - durchkommen will und umkommen muss, der aushalten muss und gegenhalten will.

Die Entzauberung, die aus dieser unaufwendig ehrlichen Aufführung spricht, zweifelt am Sinn der Geschichte. Aber der Klang der Inszenierung ist doch ebenso das Echo jenes Sinns, von dem einst Zauber ausging. Die erhobene Faust. Die Schulter, die eine Schulter neben sich spürt. »Brüder zur Sonne, zur Freiheit« - das Lied, das an diesem Abend am leisesten gesungen wird: Tiefste Trauer ist so leise wie das höchstheilige Trotzdem.

Nächste Vorstellung: 31. Mai, Putlitzstraße 13, S-Bahn: Westhafen.

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