»Die Gegenseite zieht voll durch«

Zwischen Hoffnung und Bestürzung: Der Umverteilen-Kongress auf der Suche nach einer sozialen Idee

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.
Nachfragestimulierung? Niedrig- oder Nullwachstums-Gesellschaft? Oder doch ein Grundeinkommen? Die Krise hat ein wachsendes, aber diffuses Ungerechtigkeitsgefühl hinterlassen. Nun kommt es darauf an, dieses zu artikulieren - und die Zeit drängt.

Die Widersprüche der Welt überfielen Ulrich Schneider zuletzt am Samstag. Als sich der Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes in aller Frühe einfand, um beim Kongress »Umverteilen.Macht.Gerechtigkeit« zu sprechen, wurden vor der Halle kleine grüne Zettel verteilt, die hart mit dem Wohlfahrtsverband ins Gericht gingen: Wie im 19. Jahrhundert führten sich Verbände als Arbeitgeber auf. So sehr sich Schneider auf der Bühne gegen die Wortwahl verwahrte, so sehr gab er den Kritikern »in der Zielsetzung« recht: Es sei dringend notwendig, »Geld in das System zu bekommen«, damit soziale Träger nicht weiter zu unsozialen Praktiken gezwungen würden. Gerade deshalb habe sich der Verband auch entschlossen, sich der »Umfairteilen«-Kampagne anzuschließen - für den 1924 gegründeten Dachverband von Sozialträgern, Aidshilfe, Kinderhilfswerk oder Deutscher Lebens-Rettungs-Gesellschaft kein selbstverständlicher Schritt.

Dennoch hat Scheider nicht das Gefühl, sich aus dem Fenster zu hängen. Umverteilungsforderungen, sagt er, seien »in der Mitte der Gesellschaft« angekommen. »Im vergangenen Jahr hat sich ein neues Gerechtigkeitsgefühl herausgebildet.« Zumindest auf dem Samstagspodium wird diese Ansicht geteilt: Das »neoliberale Heilsversprechen« sei diskreditiert, sagte Anne Jung von Medico International. Sie erinnerte daran, dass auch die Tobin-Steuer noch vor kurzem als utopisch galt, während sie inzwischen dabei ist, Realität zu werden - wenn auch nicht so, wie Attac sich das vorstellt. Jung rief dazu auf, an den anstehenden »Blockupy«-Protesten teilzunehmen.

Ulrich Brand über ein Ende des Neoliberalismus

Ist der Neoliberalismus am Ende? Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, ist zumindest skeptisch. Aus seiner Sicht ist die alte Doktrin zwar angeschlagen, aber noch immer dominant. Mit dem Politologen sprach nd-Mitarbeiter Velten Schäfer.

Breit verankert scheint das diffuse Gefühl von Ungerechtigkeit, das diese Krise hervorruft. Entsprechend breit gestreut sind die Handlungsvorschläge. Auf der Konferenz reichten sie von im Diskurs verankerten, aber nicht umgesetzten Maßnahmen wie einem echten Trennbankensystem oder einer öffentlichen Ratingagentur über keynesianische Konzepte wie den »Marshallplan für Europa« des DGB bis hin zu einem weitgehenden Umbau zu einer emanzipatorischen Niedrig-Wachstum-Wirtschaft durch Konversion etwa der Automobilindustrie, was Barbara Muraca von der Uni Jena vorschlug. Auch das bedingungslose Grundeinkommen spielte immer wieder eine Rolle.

So fruchtbar jede alternative Debatte scheint, so wenig schien sich zwischen den Podien eine rote Linie zu ergeben. Geschweige denn eine »hegemoniale Erzählung«, die die Basis des Neoliberalismus, nämlich die Alltagsplausibilität von Angst und Existenzkampf, aktiv herauszufordern in der Lage wäre. Pessimistisch zeigte sich denn auch Dierk Hirschel, Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik beim ver.di-Bundesvorstand: Angesichts der Krise erwiesen sich Europas Gewerkschaften und Sozialdemokratien als »nahezu handlungsunfähig«. In Südeuropa werde gerade das Tarifsystem zerschlagen - und die Gewerkschaften schauten zu. »Die Gegenseite zieht voll durch«, warnte Hirschel fast düster. Wenn das so weitergehe, werde »uns Europa um die Ohren fliegen«. Der frühere UNCTAD-Chefvolkswirt Heiner Flassbeck ist ähnlich pessimistisch. Brigitte Young vom Attac-Beirat glaubt dagegen nicht an den großen Kladderadatsch.

Was zu tun ist? Weitermachen, sagte Hirschel sinngemäß: mit den schwierigen Versuchen, internationale Gewerkschaftsarbeit zu machen und die Standortfalle zu vermeiden, mit der schwierigen Annäherung gewerkschaftlicher und außergewerkschaftlicher Protesttraditionen, mit jeder Art von Diskussion »über die Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit«. Wird das beherzigt, wird es noch viele Konferenzen geben müssen. Auch nach der Bundestagswahl.

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