»Wir sind Bürger dieses Landes«

Demonstrationen in Berlin und Solingen anlässlich 20 Jahre »Asylkompromiss« und tödlichem Brandanschlag

  • Malene Gürgen, Berlin 
und Marcus Meier, Solingen
  • Lesedauer: 5 Min.
In Solingen und Berlin wurde am Wochenende der Opfer des Brandanschlags in Solingen vor 20 Jahren gedacht und gegen Rassismus demonstriert. Am 26. Mai 1993 drei Tage vor dem Anschlag hatte der Bundestag dem »Asylkompromiss« zugestimmt.

Es ist kalt, windig und regnet ununterbrochen - nicht gerade ideales Demowetter am Samstagnachmittag in Berlin. Am Auftaktort unweit des Holocaust-Mahnmals ist die Stimmung wie auch die Menschenmenge dann auch zunächst eher bescheiden. Zumindest im Souvenirgeschäft an der Ecke freut man sich, denn hier stattet sich der ein oder andere Demonstrant schnell noch mit Regenschirmen und Capes aus. Zeit dafür ist genug, denn die Auftaktkundgebung kann nicht zur geplanten Zeit beginnen: Immer wieder werden Grüppchen auf dem Weg zur Demo durch die Ausweiskontrollen der Polizei aufgehalten. Schließlich gehen die Redebeiträge dann doch los. Sie erinnern an die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, an den tödlichen Brandanschlag auf die Familie Genç in Solingen - und daran, dass Rassismus auch heute Menschen tötet.

Dann setzt sich der Zug in Bewegung, flankiert von einem großen Transparent, das an die Opfer rassistischer Gewalt erinnert. Eine »Riesendemo«, wie im Vorfeld auf den Plakaten angekündigt, ist es wohl nicht, aber immerhin knapp 1000 Menschen haben sich trotz des Wetters auf die Straße getraut. Darunter sind auch viele Geflüchtete vom Oranienplatz, die die Spitze der Demo bilden. Sie sorgen dafür, dass die Demo für ihre Größe erstaunlich laut ist, indem sie immer wieder Sprechchöre anstimmen. Die Stimmung ist dann trotz des Regens ziemlich gut. »Natürlich wären mehr Leute toll, aber wir machen jetzt das Beste draus«, sagt Maria aus Berlin.

Am Checkpoint Charlie geht es dann erst mal nicht weiter. Der Grund: Bei den Ausweiskontrollen wurde ein Mann von der Polizei in Gewahrsam genommen, weil er keinen Ausweis dabei hatte. Die Demospitze entscheidet, nicht weiter gehen zu wollen, bis sich die Situation geklärt hat. »Das ist ein Angriff auf unsere Demonstration, den wir nicht hinnehmen«, sagt einer der Teilnehmer aus dem Protestcamp am Oranienplatz. Schließlich kommt eine gute Nachricht: Die Polizei sei mit dem Mann in das Asylbewerberheim gefahren, in dem er wohne, dort habe er seinen Ausweis vorzeigen können. Es kann weitergehen.

In der Nähe des U-Bahnhofs Prinzenstraße in Kreuzberg wird die Demo erneut aufgehalten, diesmal durch eine Straßensperrung in Folge eines Autounfalls. Als der Zug auf die andere Straßenseite ausweichen möchte, kommt es kurz zu etwas Gerangel mit der Polizei, die Situation beruhigt sich aber schnell wieder. Als der Zug dann endlich am Zielort, dem Protestcamp am Oranienplatz, ankommt, hat sich die Teilnehmerzahl noch mal deutlich verringert - nur noch wenige hundert Menschen halten dem Regen stand, der weiter ununterbrochen vom Himmel strömt. Doch unter ihnen ist die Stimmung immer noch gut, außerdem gibt es jetzt ein Konzert, heißen Tee und warmes Essen.

»Die Demo war sehr wichtig für uns. Denn hier geht es um die Dinge, derentwegen wir seit fast acht Monaten jeden Tag und jede Nacht hier im Protestcamp sind«, sagt Patras Bwansi vom Flüchtlingsstreik gegenüber »nd«. Er freut sich, dass auch viele Geflüchtete aus Heimen in anderen Bundesländern zur Demo angereist sind. »Wir kämpfen gemeinsam gegen Rassismus, auf dieser Demo und an jedem anderen Tag, und wir werden damit nicht aufhören«, so Bwansi. Felix Jourdan, der Sprecher des Bündnisses »Fight Racism Now«, das zu der Demo aufgerufen hatte, zeigt sich zufrieden. »Wir möchten uns bei allen bedanken, die trotz des Wetters da waren und die Demo unterstützt haben«, sagt er. Auch er habe sich besonders über die große Beteiligung von Geflüchteten gefreut. »Der Versuch der Polizei, die Demo durch feindselige und massive Ausweiskontrollen einzuschränken, hat nicht funktioniert«, so Jourdan.

Auch in Solingen selbst demonstrieren deutlich über 1000, nach Veranstalterangaben 1800 Menschen, auf Einladung des überregionalen, links geprägten Bündnisses »Das Problem heißt Rassismus«. 1993 sei noch nicht vorbei, da Rassismus in vielen Formen fortexistiere, betonen mehrere Rednerinnen und Redner. Das gelte für staatlichen Rassismus, der sich insbesondere in einem unmenschlichen europäischen Grenzregime, in rücksichtslosen Abschiebungen und ungleichen Rechten manifestiere, als auch für einen manifesten Alltagsrassismus, schließlich jenem der Neonazis.

Die Brandstifter von Rostock-Lichtenhagen, Solingen und vielen anderen deutschen Städten hätten sich zu Beginn der 1990er Jahre als »eine militante Vorhut des rassistischen Volkswillens« verstehen können, erinnert Cornelia Kerth in ihrer Rede. Mord und Totschlag hätten damals zu politischen Erfolgen geführt, insbesondere zur faktischen Abschaffung des Asylrechts, so die Bundesvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.

Der Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« habe die Naziszene über Jahrzehnte mitfinanziert und gestärkt, kritisiert der Jurist und Publizist Rolf Gössner mit Blick auf den NSU, aber auch den V-Mann Bernd Schmitt, in dessen Kampfsportschule Neonazis ein und aus gingen und in der auch drei der vier Täter des Brandanschlages trainierten. Der Geheimdienst sei »Teil des Neonazi-Systems«, nicht kontrollierbar und müsse abgeschafft werden, forderte Gössner.

Vor dem Grundstück in der Unteren Wernerstraße, auf dem einst das Zweifamilienhaus der Familie Genç stand, legen die Demonstranten eine Schweigeminute ein. Der Journalist Taner Aday, 1993 Sprecher des nach dem Brandanschlag entstandenen Solinger Appells, fordert eine politische und soziale Gleichstellung der Menschen mit Migrationserfahrung. »Wir sind keine Gäste oder Mitbürger, begreift das endlich! Wird sind Bürger dieses Landes.«

Der Versuch einiger türkischer Nationalisten, an dem Demozug teilzunehmen, kann am Anfang der Demonstration schnell unterbunden werden. 1993 waren »Graue Wölfe«, türkischstämmige Faschisten, tagelang auf der Welle der Wut und Trauer geritten. Gerade Redner von in der Türkei unterdrückten Minderheiten betonen die Notwendigkeit des Kampfes auch gegen nicht ursprungsdeutsche Faschisten und Rassisten sowie Islamisten.

Die Veranstalter betrachten ihre Demonstration als Ergänzung des offiziellen Gedenkprogrammes der Stadt, dessen Höhepunkt eine offizielle Gedenkveranstaltung am kommenden Mittwoch sein wird.

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