Vernichtung der Wirklichkeit

»Müllermontag« im Berliner Literaturforum im Brecht-Haus: die »Traumtexte« Heiner Müllers

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Als Widmung in ein Buch für einen Mitschüler schrieb Heiner Müller 1947: »Sage mir Dein Verhältnis zum Schmerz, und ich sage Dir, wer Du bist. Ernst Jünger.«

Das war das frühe Bekenntnis zu einer Kunst, zu einer Lebenssicht, die das Denken nur spürt, wenn es Gedachtes in die Krise bringt, es an Klippenstürze lockt. »Ganz simpel formuliert: Die Funktion von Kunst ist es, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.« So, wie es Träume tun. Die in uns ein ungezügeltes Welttheater der Imagination ablaufen lassen, darin es keine Trennung in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft gibt.

Träume schaffen Realität ab, indem sie alle Ordnung abschaffen, alle Schwerkraft, alles Gewissen und alle Gesittung. Nietzsches Behauptung, man träume gar nicht oder aber interessant (so, wie man gar nicht wach sei oder aber interessant), ist für Heiner Müller (1929 bis 1995) der schöpferischer Urgrund für die lebenslange Suche nach einer Ästhetik des Unbewussten gewesen.

Es war die das Thema für den jüngsten »Müllermontag« im Literaturforum im Berliner Brecht-Haus (»nd« ist Medienpartner). Der Dramaturg und Autor Gerhard Ahrens, lange Jahre ein führender Kopf der Schaubühne, stellte das von ihm herausgegebene Buch »Traumtexte« von Heiner Müller vor. Es enthält Materialien zur Psychoanalyse, die der Dichter früh zusammentrug, in seiner Zeit in Waren/Müritz bis 1952. Gesammelt sind auch Traumaufzeichnungen Müllers, Werkstattnotizen und Auskünfte des Schriftstellers »über die Verfertigung von Texten nach dem Prinzip des Traums« (Ahrens) sowie Traumtexte, in denen dieses Prinzip zur Dichtung wurde..

Ahrens las, und er sprach mit dem Maler Mark Lammert sowie dem Regisseur Peter Staatsmann, der über Müllers Traum-Theater promoviert hat. Oft sei ihm an Inszenierungen die Grobheit der Gewaltbilder aufgefallen, und zwar störend, denn jedes »übererregende Material« rufe im Zuschauer automatisch Abwehr hervor. Staatsmann habe sich »eine Spur der Psychoanalyse ins Werk gebahnt« und sei so auf eine »noch nicht wirklich geborgene Dimension« bei Müller gestoßen: Es gelte hinter den scheinbar martialischen Bildfetzen einzutauchen in ein feines, nahezu zartes Gespinst von Traumwelten, von »freien Assoziationen«, welche den Grundbau der Psychoanalyse bilden.

Immer wieder geht es in diesen knapp neunzig Minuten um wirklich schöne, schwierige Zustände. Ums »rahmenlose Denken« (Staatsmann). Um »Intensität, die sich im Traum verbarrikadiert« (Lammert). Um die »Abwehr unseres fortwährenden Rationalisierungszwanges« (Ahrens). Um den Mut, das zu sagen, was in den Sinn schießt. Um Geräumigkeit hinter den Stirnen. Um die Souveränität, dabei auch peinlich und ungereimt zu sein. Ums Feiern der Leerstellen geht es, die Denk- und Wahrnehmungssysteme hinterlassen. Literatur, die ständig Material durch die Zensur eines gesitteten Bewusstseins schleust, möchte genau so sein, wie man träumt: synchron, rücksichtslos, ungeschützt, mit selbstverständlicher Offenheit für Verstrickungen, welcher Art auch immer.

»Als Träumer ist man ein Genie«, sagte Müller. Gertrude Stein wird zitiert: Im Schreibprozess müsse man alles zulassen, »was beim Schreibprozess anfällt«. Offen bleiben also für plötzliche Verunsicherungen, für Einschüsse des Ungeplanten. Sich bloß nicht selber blockieren durch Vernunft! Vernunft kann Erkenntnis fördern, aber sie verhindert (ästhetische) Erfahrungen. Da sprechen also drei Experten über das Schreiben, und die Gedanken gehen beim Zuhören - ins Leben. Moral, so heißt es, sei doch stets nur Feigheit vor einem Optikwechsel. Feigheit vor dem Gang auf die andere Seite, vor dem politisch Unkorrekten, vor dem Schwindelgefühl beim nicht abgesicherten Standpunkt. Feigheit vor dem Geständnis, »dass die Hölle und das Fegefeuer weit kurzweiligere Plätze sind als das Paradies« (Müller).

Träume sind nur als Erinnerung fassbar. Vage fassbar. Aber sie sind die einzige Erinnerung, die nicht von Beschönigung lebt, nicht von Beschwichtigung, nicht von Reinwaschung. Traumerzählungen sind auch in diesem Sinne Vernichtungen der Realität, in der Erinnerungen oft genug Schutzbastionen ganz aus Gestern sind, gerichtet gegen die Unsicherheit im laufenden Lebensprozess.

»Wirklich werden wir nur als traumvertextete Wesen«, hat der Essayist Klaus Theweleit geschrieben. Es ist eine Variation des von Müller oft herangezogenen Novalis-Satzes, nur das Poetische sei »das echt absolut Reelle«. Was ist dies denn anderes als ein Aufruhr gegen den Druck von irgendeinem Außen, gegen das Gefüge, in dem wir existieren und das sich doch täglich verhärtet. Da wächst naturgemäß Sehnsucht nach einem Rückzugsgebiet, wo den Bedrängern, den Schäbigen, den Wichtigtuern, den Einfaltskerlen, den Linearveranlagten, den Mördern kleiner und großer Fragen kein Zugang gelingt.

»Kunst ist immer Rückkehr - dorthin, wo man noch keine Konvention eingegangen ist« (Staatsmann). Dieses Rückkehrgebiet Kunst ist daher kein Fluchtgegend, es ist ein Ankunftsort aus Farben, Tönen, Formen und Worten, wo wir gefahrlos erkennen dürfen, was wir sind: zersplitterte, ungenügende, unkomplettierte, von Normabweichung träumende Wesen. Und weil auch Psychoanalyse Literatur ist, hatte sie es schwer in gesellschaftlichen Systemen, die im Unbewussten eine Gefahr für die groß angelegte Bewusstseinsindustrie sahen. »Weil Freud von einem staatlich nicht kontrollierten Menschen träumte, schon deshalb gehört er unter die Artisten« (Theweleit). Er war verboten, wo man Kunst primär zur politischen Normdurchsetzung nutzen wollte und sich die Menschenseele hell ausgeleuchtet wünschte. Wo doch aber alles Existierende »Schatten von etwas anderem ist« (Müller).

Mark Lammert - ein Bühnenbildner der Bewegungs-Räume, Maler einer Farbensehnsucht gleichsam nach Weiß, also nach wahrlich freiem Feld - bat darum, die Traumtexte Müllers nicht so sehr nach ihrer Nutzbarkeit fürs Theater zu vereinnahmen. Wo in den neunziger Jahren zwar einerseits, mit dem Ende der geteilten Welt, die Kraft des Dramatikers nachließ, dort fand der Dichter andererseits »mit Formen der Traum-Dichtung zu einer neuen großen Form«. Ebenbürtig allem bisherigem Werk. Ahrens: »Ja, Hymnen an die Nacht, trauerdurchzogen.« Wie alles, was Romantiker schreiben.

Lammerts Frage: ob es nicht einen Zusammenhang gebe zwischen Müllers enorm starker Beschäftigung mit Träumen damals, unmittelbar nach dem Krieg, und nach dem Ende der DDR. Vom Nachkrieg in einen Nachkrieg. »Wieder war doch eine Welt zusammengebrochen, wieder kamen Träume abhanden«, und der Traumbegriff Müllers siedelte daher - in der Frühzeit des Ostens wie in der Frühzeit des Westens nach 1990 - ganz in der Nähe der Epiphanie, der Erscheinung des ganz Anderen, das in kruder Realität schmerzhaft fehlte.

Es war, wenn man das so paradox sagen darf: ein still redender Abend. Ahrens las noch etwas und sagte dann knapp Dank. Aus. Schön so was - auch wenn es bestimmt Fragen aus dem Publikum gegeben hätte. Aber jetzt bloß kein Nachzucken der verschiedensten Interessiertheiten. Kein Herumwörtern mehr. Nein, jetzt - vorbei am Friedhof nebenan, wo Müller begraben liegt - hinaus und hinein in den nachtnahen Lichtschwund der Stadt. An der Wand über den angenehm zögerlich Disputierenden hatte die ganze Zeit eine Fliege gehockt. Daheim findet sich das passende Gedicht Heiner Müllers: »Über ein Blatt mit Gedichten/ Frisch aus der Schreibmaschine/ läuft ein Insekt/ ich weiß nicht ab es mir Spaß gemacht hätte/ Aber das weiß ich genau ich hätte es umgebracht/ vor zehn Jahren ohne/ Zögern Was ist anders geworden/ Ich oder die Welt«

Der Traum von Güte und Vorsicht und Demut und Barmherzigkeit. Bis zum nächsten bösen Erwachen.


Darum geht es bei der Trennung der Kommunisten von der Macht - um die Emigration in den Traum. Dadurch wird die Idee wieder eine Macht … Der Kommunismus existiert in der Traumzeit, und die ist nicht abhängig von Sieg oder Niederlage. Der Rest ist Politik, interessiert eigentlich nur die Macher, die davon leben. Und der Raum dieser Macher muss durch die Mobilisierung von Phantasien und Utopien immer weiter verkleinert werden. Nur dürfen solche Utopien nicht realisierbar sein, daher kommt ihre Kraft. Die Utopie des Christentums bleibt existent, weil man sie in der Realität nicht überprüfen kann
HEINER MÜLLER, 1990

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal