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Baustellen unter Polizeischutz

Kleinkriminalität entwickelte sich hin zu mafiösen Strukturen

  • Andrea Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Diebstahl von Baumaterial, mutwillige Zerstörung von Maschinen, erzwungene Anstellungen, Schutzgelderpressung, Drohungen bis hin zu Schießereien - kannte man solche Schlagzeilen bisher vor allem von Korsika und dem Marseiller Raum, so herrschen seit einigen Monaten auf zahlreichen Baustellen in ganz Frankreich quasi mafiöse Zustände.

Vor wenigen Wochen schoss ein Unbekannter auf einer Baustelle in der Pariser Vorstadt Pierrefitte auf drei Bauarbeiter und verletzte zwei von ihnen. Vor anderthalb Jahren war diese Baustelle bereits Schauplatz groß organisierter Schutzgelderpressung gewesen. Mehrere Baustellen in sozial brenzligen Vorstädten im Norden von Paris stehen derzeit unter Polizeischutz. Andere mussten aufgrund zahlreicher Übergriffe vorläufig die Arbeit einstellen. Auf diese Weise wird Frankreich daran gehindert, sein ambitioniertes Stadtsanierungsprogramm in die Tat umzusetzen. Dieses sieht Renovierungen in 530 Stadtvierteln vor. 42 Milliarden Euro sollen in den kommenden Jahren in ganz Frankreich investiert werden, davon 19 Milliarden Euro in jener Region Ile-de-France.

Doch insbesondere in sozial schwachen Vorstädten stören die Baustellen das Geschäft der dort ansässigen Drogendealer. Andererseits sind die Baustellen aber auch eine wahre »Melkkuh«, so Stéphane Gatignon, Bürgermeister von Sevran (Departement Seine-Saint-Denis) - sei es für »fiktive Anstellungen«, vor allem aber auch für den Diebstahl von Baumaterial. Die Beispiele reichen von verschwundenen Bohrmaschinen bis hin zum Anzapfen der Tanks der Baufahrzeuge, von entwendeten Kupferrohren bis zu Metallrahmen Hunderter alter Fenster, die über Nacht spurlos verschwinden - mit entsprechenden Verlusten für die Bauunternehmer.

Vor allem aber ist die seit Jahrzehnten in Frankreich stillschweigend erduldete Masche der selbst ernannten »Wachdienste« in den letzten Jahren professioneller und skrupelloser geworden, wie der Fall Pierrefitte gezeigt hat. Üblicherweise »bieten« ein paar junge Männer, die sich als Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma ausgeben, den Bauunternehmen ihre »Dienste« an, d. h. gegen eine Menge Geld versprechen sie, die Baustelle zu »schützen«. Lehnt die Baufirma das Angebot ab, folgen in der Regel Repressalien wie Diebstähle oder die Beschädigung von Baumaschinen. Die meisten Bauunternehmer geben nach und zahlen, aus Angst um ihr Baumaterial und weil sie auf das Sanierungsprogramm nicht verzichten können. Auch die Abgeordneten der betroffenen Stadtviertel und die staatlichen Behörden, allen voran die Präfekturen, haben das Problem lange totgeschwiegen.

Doch auf diese Weise wurde über Jahrzehnte ein System genährt, das sich von Kleinkriminalität hin zu einer quasi »mafiosen Struktur« weiterentwickelt hat, »die bereits mit jener auf Korsika vergleichbar ist«, befürchtet Stéphane Peu vom Kommunalverband »Plaine Commune Habitat«, der in der Pariser Arbeitervorstadt Saint Denis die Sozialwohnungen verwaltet und dort fünfzehn Sanierungsprojekte überwacht.

Doch die Schüsse in Pierrefitte scheinen die Zungen gelöst zu haben, denn erstmals müssen die Unternehmer nicht nur um ihr Baumaterial fürchten, sondern auch um das Leben ihrer Mitarbeiter vor Ort. In mehreren Departements wurden bereits Versuche gestartet, Abgeordnete, Präfektur, Polizei und Bauunternehmer an einen Tisch zu bekommen, um gemeinsam der bisherigen Tolerierung der kriminellen Erpressungen ein Ende zu setzen. Für Stéphane Peu erscheint dies umso dringender, als es »letztlich die Anwohner sind, die über ihre Mieten die für die Bauunternehmen entstandenen Mehrkosten tragen müssen«.

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